Sozialismusbewältigung Teil 29

29. Teil: Sozialismus als „Ende des Judentums“

Josef Schüßlburner

(Stand: 30.06.2023) Beim Vergleich des zeitgenössischen „Rassenrechts“ von US-amerikanischen Bundesstaaten mit den von diesem Recht erkennbar inspirierten sog. Nürnberger Gesetzen des deutschen Nationalsozialismus springt sofort der zentrale Unterschied ins Auge, was die BRD-Bewältigungspolitik wohl zur Vermutung verleitet (soweit sie diesen Komplex nicht ohnehin ins Vergessen verdrängt), daß kein Zusammenhang zwischen guter „amerikanischer Demokratie“ und böser NS-Gesetzgebung bestehe könne. Während nämlich die amerikanischen Regelungen auf die Deklassierung vor allem von Negern, aber auch Indianern und Asiaten abzielten, brachte die NS-Gesetzgebung den Antisemitismus in eine juristische Form, was sich in den USA nie in dieser Weise zum Ausdruck gebracht hatte.

Dieser Unterschied kann sinnvoll nur mit der sozialistischen Motivation der NS-Gesetzgebung erklärt werden, die in den USA nicht existiert hat, weil der weitgehend mit dem alternativen europäischen Sozialismus, also mit dem Faschismus kongeniale amerikanische Progressismus seinem calvinistischen Ausgang entsprechend eher philosemitisch eingestellt war. Diese Progressiven waren zwar Rassisten, aber keine Antisemiten (eine automatische Gleichsetzung entsprechend BRD-Bewältigung ist ohnehin irreführend), die sich zwar über antisemitische Ausschreitungen in Rußland und dann in NS-Deutschland empört zeigten, aber die Lynchmorde an amerikanischen Negern akzeptieren konnten. „Nationen, die noch nach Kriegsende von der rassischen Minderwertigkeit der Schwarzen überzeugt waren“, wollten dabei nicht erkennen, „daß jeglicher Rassismus – ob er nun auf Schwarze oder Juden zielte – aus demselben Stoff war“ (so eine im Text angeführte Bewertung in einem jüngeren Werk zum „Rassismus“, das aber dann ebenfalls Gleichordnungen vornimmt, die nicht zwingend waren).   

Der Nationalsozialismus leitet sich vom sozialistischen Antisemitismus ab, den die Sozialdemokratie seit dem Streit um Eugen Dühring, wohl der radikalste sozialistische Antisemit Deutschlands, durch einen Anti-Antisemitismus zu überwinden suchte. Trotzdem mußte der Parteiführer August Bebel anerkennen, daß der Antisemitismus der Sozialismus (und nicht etwa der Nationalismus) des dummen Kerls sei. Dies reflektiert die Tatsache, daß der Unterschichten-Antisemitismus, wie er zuletzt bei gleichzeitigem Rückgang des religiösen Antisemitismus von den Zünften vertreten worden war (dafür steht etwa der Fettmilchaufstand in der freien Reichsstadt Frankfurt von 1614), als zentraler Ausgangspunkt des modernen Sozialismus angesehen werden kann, gewissermaßen als sich seiner selbst noch nicht bewußt gewordener Sozialismus. Deshalb trugen „seit dem Hochmittelalter bis weit in das 19. Jahrhundert – und, unter Gestaltwandel, womöglich bis in das 20. Jahrhundert hinein – unterbürgerliche, ´demokratische´ Bewegungen in der Stadt immer zugleich einen antijüdischen Charakter“ (Nachweis im Text).

Zentrale Erklärung für den Zusammenhang von Sozialismus und Antisemitismus ist, daß das, was als „Kapitalismus“ benannt wurde und der Sozialismus überwinden wollte (und wohl noch immer will) als „jüdisch“ eingestuft wurde. Dafür steht auch die berüchtigte Schrift von Karl Marx zur Judenfrage (seinerzeit ins Englische übersetzt mit: A world without Jews), die den antijüdischen Selbsthaß von Marx zum zentralen Ausgangspunkt seiner marxistischen Theorie macht:  Es handelt sich dabei um ein cleveres Stück jüdischen Aberglaubens.  Das Lehrgebäude von Marx liest sich wie eine atheistische Thora. Sein kommunistisches tausendjähriges Reich ist dementsprechend tief verwurzelt in jüdischer Apokalypse und Messianismus.  Der Menschheit verspricht sie Erlösung, indem das Proletariat an Stelle des Volkes Israel zum auserwählten Volk gemacht wird. Dieses erkämpft das Heil, dessen Eintritt wiederum aufgrund der dialektischen Intentionalität der (gnostischen) Geschichtskonstruktion garantiert ist, die sich durch ökonomische und quasi-naturgesetzliche, d.h. (quasi-)biologische Prozesse durchsetzt.

Ausgangspunkt für die weitgehende Gleichsetzung von Judentum mit Kapitalismus sind die Zinsprivilegien, die den Juden im Alten Reich eingeräumt worden waren und diese maßgebend, zurückgehend auf das ursprüngliche kirchliche Zinsverbot für Christen, zur Tätigkeit im Geld- und Kreditwesen abgedrängt hatte. Damit mußte maßgeblichen Sozialdemokraten wie dem Chefideologen Karl Kautsky trotz des sozialdemokratischen Anti-Antisemitismus das angestrebte Ende des Kapitalismus auch als das „Ende des Judentums“ erscheinen, ein Schlagwort, das auch fast gleichlautend der Titel einer kommunistischen Schrift der 1930er Jahre war. Dies ordnet sich ein in das, was Hannah Arendt als „Antisemitismus der Linken“  gekennzeichnet hat, für den die Annahme charakteristisch ist, „die Revolution würde gefördert, wenn die allgemeine Enteignung der Kapitalisten mit der Enteignung der jüdischen Kapitalisten begonnen würde, weil sie am typischsten für den Kapitalismus seien und ihre Namen den Massen am vertrautesten“ (Nachweis im Text).   

Die Formen des sozialistischen Antisemitismus des 19. Jahrhundert wurden wie folgt zusammengefaßt: „Manche Sozialisten befürworteten besondere antijüdischen Maßnahmen, angefangen von einem wirtschaftlichen Numerus clausus (Fourier) bis zu Entziehung der Staatsbürgerschaft (Picard). Andere waren für die Ausweisung aller Juden (Alhaiza), rechtfertigten Pogrome (Duchêne) oder riefen nach totaler Vernichtung (Dühring). Wieder andere sahen im Juden den ewigen Ausbeuter der Nichtjuden (Toussenel)  und in der jüdischen Rasse den unversöhnlichen Feind der arischen (Tridon,  Regnard)  und ließen keinen Zweifel daran bestehen, daß sie antijüdische Maßnahmen wünschten, ohne sie aber ausdrücklich zu formulieren“ (Nachweis im Text).

„Der Sozialismus habe realistisch zu sein und die Idee des Rassenkampfes anzunehmen. Er müsse die höhere arische Rasse gegen die Angriffe der ´bedauernswert niedrigeren´ jüdischen Rasse verteidigen, die alles daran setze, den Reichtum der Welt an sich zu reißen.“  Als Mittel des notwendigen, gegen die Juden gerichteten Rassenkampfes wurde allerdings der wissenschaftliche Sozialismus angesehen, „eine frankogermanische Schöpfung, das heißt arisch im wahrsten Sinne des Wortes.“ Damit hat der französische Sozialismus durch ehemalige Kämpfer der Pariser Kommune die Weichen zum expliziten Nationalsozialismus gelegt, wofür als maßgebliche Person Edouard Drumont (1844-1917) genannt werden kann. Diese Vorgeschichte erklärt, weshalb sich die Sozialistische Internationale 1891 nur zu einer äußerst lauen Verurteilung des Antisemitismus aufraffen konnte, um zu vermeiden, der Judenfreundlichkeit bezichtigt zu werden, was dann in der Tat eine zu große Kehrtwendung zur bisherigen Propaganda dargestellt hätte. Der SPD-Kongreß in Köln hielt 1893 in Übereinstimmung mit der Internationalen den Antisemitismus zwar für reaktionär, schrieb ihm aber trotzdem eine revolutionäre Funktion zu; sie verstanden den Antisemitismus „gleichsam als noch nicht zum Bewußtsein seiner selbst gekommener Sozialismus.“ 

Der Anti-Antisemitismus der Sozialdemokratie blieb sehr ambivalent, was auch darauf zurückzuführen ist, daß Eugen Dühring, der schon als möglicher SPD-Chefideologe gehandelt worden war, einerseits als der extremste Antisemit Deutschlands eingestuft werden kann, den man wegen seiner Gegnerschaft zu Karl Marx ablehnte (nur indirekt wegen seines extremistischen Antisemitismus), andererseits der SPD den Weg schließlich zum Godesberger Programm (und paradoxerweise zum israelischen Kibbuzim-Sozialismus) eröffnete. Während gleichzeitig sein Antisemitismus mit den innersozialistischen Vorwürfen, die Juden würden über den Marxismus als jüdischer Theorie (was ja einiges für sich hat: „ungläubiges Judentum“ in der Einschätzung des Jesuitenpaters Gaston Fessard) den edlen Sozialismus für ihre Zwecke manipulieren (so der russische Anarchist Bakunin) den Weg zu Adolf Hitler legte! Expliziter Gegner der deutschen Kommunisten waren die „jüdischen Bankiers“ und das „Judenkapital“. Insbesondere wurde – auch – von kommunistischer Seite der SPD vorgeworfen, „durch jüdische Kapitalisten gefördert zu werden und damit den Sozialismus zu verraten.“  Dieser latente – manchmal auch offene – Antisemitismus innerhalb der organisierten Arbeiterschaft, der eben das von der sozialistischen Hauptströmung verdrängte und parteiamtlich, in der allerdings äußerst ambivalenten Weise auch bekämpfte Erbe des Frühsozialismus darstellte, dürfte dann wegen seines als wirklich revolutionär empfundenen Ansatzes sogar als ein besonderes Motiv für die später häufig zu beobachtenden Übertritte von Kommunisten zur NSDAP auszumachen sein. 

Hinweis
Zur ergänzenden Lektüre wird die einschlägige Veröffentlichung des Verfassers empfohlen: Roter, brauner und grüner Sozialismus: Bewältigung ideologischer Übergänge von SPD bis NSDAP und darüber hinaus

Josef Schüßlburner
Roter, Brauner und Grüner Sozialismus. Bewältigung ideologischer Übergänge von SPD bis NSDAP und darüber hinaus,
2008, Lichtschlag Medien und Werbung KG, 24,80 Euro
ISBN-10: 3939562254, ISBN-13: 978-3939562252
Dieses Buch ist im März 2015 in unveränderter 3. Auflage wieder erschienen und nunmehr auch in einer Kindle-Edition für 6,99 Euro erhältlich. Erhältlich auch hier

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