Beitrag zur Verfassungsdiskussion – 4. Teil: Zivilreligiöse Verfassungsuntertänigkeit – warum das Grundgesetz gemäß Artikel 146 GG einem Plebiszit unterworfen werden muß
Josef Schüßlburner
Das Grundgesetz wird zunehmend zu einem religiösen Text aufgewertet wie in den bevorstehenden Feiern zum 70. Jahrestag seines Inkrafttretens deutlich werden wird. Demokratietheoretisch ist diese verfassungsuntertänige Haltung gefährlich, da ein religiöser Text Häresien erzeugt, die dann bei einem staatlichen Dokument von Staatswegen bekämpft werden. Dies erfolgt in der freiheitlichen Bundesrepublik Deutschland, das dem Grundgesetz für diesen Staat unterworfen ist, durch „Verfassungsschutz“, welcher die Verfassung ohne Rücksicht auf die Garantie der Meinungsfreiheit (welche dabei unter keinem Verfassungsvorbehalt steht) durch „falsche“ Aussagen „gefährdet“ sieht und deshalb die Garantie von Meinungsfreiheit, politischen Pluralismus, Mehrparteienprinzip und freies Wahlrecht erheblich gefährdet. Es wird anstelle eines aufgrund von Gefährdungen durch Gewaltmaßnahmen zu rechtfertigenden Parteiverbots ersetzt durch einen ideologischen Notstand in Permanenz, der durch Verfassungsschutzberichte und disziplinarrechtlichen Verfolgungen wegen falscher Auffassungen in Aktion gehalten wird.
Letztlich spiegelt dieser ideologische Notstand dabei die aufgrund der Genese des Grundgesetzes an die Stelle der Volkssouveränität getretene Verfassungssouveränität, die die Verfassung als Kern der Rechtsordnung absolut setzt und sie damit der Änderung weitgehend entzieht – ungeachtet der Tatsache, daß das in seinen „Werten“ theologisierte Grundgesetz umgerechnet bislang fast jeden Monat geändert (meistens verschlechtert) wurde – und gegen „Verfassungswerte“ gerichteten Änderungsbestrebungen mit dem Vorwurf „Verfassungsfeindlichkeit“ begegnet. Eine derartige Verfassung wird dabei notwendiger Weise zu einem weltanschaulich geschlossenen System, das zwingende Antworten auf alle möglichen Fragen gibt und etwa ein offizielles Geschichtsbild vorschreibt. Damit wird der notwendiger Weise fragmentarische Charakter einer das Prinzip der Volkssouveränität beachtenden rechtsstaatlichen Verfassung grundlegend verkannt: Die Verfassung wird damit zu einem religiösen oder theologischen Dokument, mit der Gefahr, daß dabei die mit der Verfassung garantierte „Demokratie“ zu einer Fehlbezeichnung für so etwas wie eine Ideologieherrschaft („Theokratie“) wird. Die in der Verfassung garantierten Grundrechte werden dann quasi-religiös als „Werte“ verehrt, verlieren dabei aber zunehmend an weltlich-juristischer Qualität. Das für eine Demokratie maßgebliche Grundrecht der Meinungsfreiheit wird dabei nicht abgeschafft, sondern sein Gebrauch wird delegitimiert, d.h. der Bürger kann sich nicht mehr auf diese Verfassungsgarantie verlassen, welche jedoch als „Wert“ zelebriert wird.
Gerade dieser für die politische Freiheit zentrale Gesichtspunkt von Parteiverbot und „Verfassungsschutz“ rechtfertigt eine Verfassungsdiskussion durchaus mit dem Ziel der im Grundgesetz in seinem zentralen Schlußartikel selbst vorgesehenen Grundgesetzablösung. Aufgrund der zivilreligiösen Aufwertung des Grundgesetzes sind zur Verwirklichung der politischen Freiheit psychologische Hürden zu nehmen. Allein das Aufwerfen der Verfassungsfragen trägt allerdings dazu bei, diese Hürde zu überwinden, weil Verfassungsdiskussion deutlich macht, daß es noch eine Volkssouveränität und keine sog. „Verfassungssouveränität“ besteht: Das Grundgesetz hat sich deshalb den Deutschen anzupassen und nicht die Deutschen dem Grundgesetz, mögen dessen „Werte“ zur Begründung einer Verfassungsuntertänigkeit noch so sehr beschworen werden. Zu fordern ist deshalb, daß endlich die zentrale Grundgesetzbestimmung zur Anwendung kommt, nämlich eine Volksabstimmung über das Grundgesetz gemäß Artikel 146 dieses Grundgesetzes. Wenn die Deutschen das Grundgesetz in einer Weise schätzen wie dies in den Festreden zum Ausdruck kommt, dann ist nicht zu erwarten, daß dieses Grundgesetz in einer Volksabstimmung abgelehnt wird. Immerhin wäre dabei der Volkssouveränität endlich Rechnung getragen: Die Verfassung leitet sich von der Volkssouveränität ab und das Deutsche Volk ist dementsprechend wichtiger als das Grundgesetz! Die bloße Tatsache einer Volksabstimmung würde zu einer Ent-Theologisierung der bundesdeutschen Verfassungsrealität beitragen und dürfte zu einer normalen weltlichen Demokratiesituation führen.
Hinsichtlich der Würdigung des Grundgesetzes ist dabei auf folgende zentrale Gesichtspunkte einzugehen: Die Tatsache, daß sich eine der Weimarer Reichsverfassung (WRV) vergleichbare Verfassung in Österreich nach dem 2. Weltkrieg bewährt hat, unterminiert das zugunsten des freiheitlichen Grundgesetzes gegenüber der freien Weimarer Reichsverfassung häufig vorgebrachte Argument, daß sich eben das Grundgesetz bewährt habe, während dies bei der WRV nicht der Fall gewesen sei. Der Vergleich mit Österreich macht deutlich, daß sich auch eine WRV als Verfassung der (oder auch für die) Bundesrepublik Deutschland bewährt hätte, weil die Frage von Bewährung und Nichtbewährung der Verfassung erkennbar von Umständen abhing, die mit der Verfassung als solche wenig oder nichts zu tun hatten. So war die Bundesrepublik Deutschland keinem Versailler Vertrag ausgesetzt, um nur einem zentralen Gesichtspunkt für die Erklärung des Scheiterns der WRV und für den Bestand des Grundgesetzes anzuführen.
Zudem stellt die Annahme, daß die Bundesrepublik Deutschland ihre unbestreitbaren Erfolge insbesondere im Bereich der Wirtschaftsentwicklung – auf der Grundlage weitgehend aus dem Kaiserreich stammenden Zivil- und Justizrechts – dem Grundgesetz zu verdanken hätte, eine erhebliche Selbstüberschätzung der Verfassungsjurisprudenz dar, was jedoch wesentliche Grundlage des Lobpreises für das Grundgesetz darstellt. Demgegenüber kann wohl überzeugend konstatiert werden: So wie sich die österreichische Verfassung von 1920, die 1934 zwar nicht am Nationalsozialismus, sondern an den (verfassungsfeindlichen) österreichischen Christ- und Sozialdemokraten gescheitert war, nach 1945 bisher bewährt hat, so hätte sich auch eine 1933 nicht nur, aber formal an den Nationalsozialisten gescheiterte WRV nach 1945 als Verfassung der Bundesrepublik Deutschland bewährt, hätten die Besatzungsmächte die Fortgeltung bzw. das Wiederinkrafttreten der WRV erlaubt. Der wesentliche Unterschied zwischen WRV und Grundgesetz besteht in der Verminderung des Demokratiegehalts, was prägnant wie folgt zusammengefaßt ist: „Gegen das ´antidemokratische` Verhalten bestimmter Gruppen wurde fortifiziert, indem bestimmte Grundrechte bei Mißbrauch verwirkt (Art. 18) und bestimmte Parteien verfassungswidrig sein sollten (Art. 21). Gegen den irregeleiteten Volkswillen wurden die stärksten Bastionen errichtet: kein Volksbegehren, kein Volksentscheid…, keine Wahl des Bundespräsidenten durch das Volk…“ (Nachweis im Text).
Dies sollte korrigiert werden, wofür schon deshalb eine Notwendigkeit besteht, weil die politische Linke im Zuge der Wiedervereinigung Artikel 146 GG bewußt nicht hat abschaffen lassen; vielmehr ist diese Bestimmung im Wege der Modifizierung bekräftigt worden, was nur die Sinn haben kann, sich eine linke Verfassungsoption zu sichern, die nur in Richtung antifaschistischer DDR-Verfassung von 1949 gehen kann, einer juristisch klugen „Fortentwicklung“ des vorher erlassenen Grundgesetzes in Richtung antifaschistischer Unterdrückung. Dem gilt es durch Erinnerung an die Volkssouveränität entgegenzutreten.
Hinweis
Beim vorliegenden Beitrag handelt es sich um einen fortgeschriebenen Beitrag, welcher bereits zum 60. Jahrestag des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland unter der Überschrift: „Zivilreligiöse Verfassungsuntertänigkeit. Betrachtungen zum 60. Jahrestag des Inkrafttretens des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland“ in der libertären Zeitschrift „eigentümlich frei“ veröffentlicht worden ist. Dieser Text geht wiederum auf einen Vortrag zurück, den der Verfasser bei der Frühjahrstagung der Zeitgeschichtlichen Forschungsstelle Ingolstadt am 23. Mai 2009 gehalten hat.
Die Redaktion dankt der Zeitschrift „eigentümlich frei“ für (wenngleich fortgeschriebene) Veröffentlichung des Beitrags auf vorliegender Internetseite.