Parteiverbotskritik Teil 19: Gelungene Bewältigung in Japan, Bewältigungsfehlschlag Bundesrepublik Deutschland: Die Situation der Vereinigungsfreiheit
Josef Schßlburner
Üblicherweise wird der Bundesrepublik Deutschland eine gelungene „Bewältigung der Vergangenheit“ zugute gehalten, wobei dieses Gelingen gelegentlich unter Abgrenzung gegenüber dem als weniger gelungen angesehenen Fall Japan festgestellt wird. Die Situation der Vereinigungsfreiheit und damit verbundener Rechte und Rechtsprinzipien wie Religionsfreiheit und Trennung von Staat und Religion / Ideologie als Rechtsstaatsgebot in den beiden Staaten zeigt: Die Bewältigung stellt sich in Japan als praktisch gelungen dar, in der Bundesrepublik Deutschland ist, gemessen an den verkündeten Standards, eher ein Fehlschlag zu konstatieren. Seit Beendigung der amerikanischen Besatzung gibt es in Japan trotz problematischer Vereinigungen wie etwa die Aum-Sekte (Ōmu Shinrikyō) oder auch die laien-buddhistischen Organisation Soka Gakkai, die sich gewissermaßen eine Parlamentspartei hält und letztlich (verfassungsfeindlich, wie der wehrhafte deutsche Demokrat feststellen müßte) einen religiösen Staat anstrebt, keine Partei- und Vereinigungsverbote, die in der Bundesrepublik Deutschland schon in Form der „Verbotsdiskussion“ eines permanenten ideologiepolitischen Notstands wesentliche Bestandteile der Realverfassung darstellen.
Damit setzt sich Japan erfolgreich von der Politik der Beeinträchtigung der Vereinigungsfreiheit in der Zeit vor der Verfassung von 1946 und der amerikanischen Besatzungszeit bis 1952 ab, während die Bundesrepublik Deutschland bei weitem weniger aus der Beeinträchtigung der Vereinigungsfreiheit vor Erlaß des Grundgesetzes im Jahr 1949 gelernt hat. Sie pflegt dabei eine Parteiverbotskonzeption, die das präventive Verbotssystem der alliierten Besatzungsherrschaft durch repressive Verbotsentscheidungen fortsetzt. Während die Bundesrepublik Deutschland ihre politische Existenz ziemlich schnell mit Parteiverbotsverfahren begann, hat sich die konservative Regierung Japans geweigert, das schließlich von der amerikanischen Besatzungsherrschaft noch gewünschte Verbot der Kommunistischen Partei vorzunehmen. Japan hat unmittelbar nach Beendigung der Besatzungsherrschaft als eines der ersten Gesetze ein Sicherheitsgesetz erlassen, welches unter strikter Beachtung der Vereinigungsfreiheit Vereinigungsverbote nur bei schwerwiegender Kriminalität zuläßt. Damit wollte man bewußt einer Wiederkehr der Situation vorbeugen, daß „Verfassungsfeinde“ als „Gedankentäter“ verfolgt werden.
Die reale Freiheit in Japan konnte nur aufgrund einer bewußten Abgrenzung von der bundesdeutschen Verfassungslehre erreicht werden: „Im Gegensatz zur deutschen Staatsrechtslehre der Vorkriegszeit ist die japanische Staatsrechtslehre der Nachkriegszeit zu der zeitgenössischen deutschen Staatsrechtslehre vorläufig auf Distanz gegangen. Der Stein des Anstoßes war das Prinzip der streitbaren Demokratie. Die japanische Staatsrechtslehre hat den Hintergrund dieses Prinzips gut verstehen können. Sie hat trotzdem dieses Prinzip als Rechtfertigung dafür verstanden, dem Volk den vom Staat festgesetzten Wert aufzuzwingen und Druck auf das Gewissen der Einzelnen auszuüben, und ist stolz darauf gewesen, daß die japanische Verfassung ein solches Problem nicht enthält und ein solches Prinzip nicht institutionalisiert. Unter diesem Gesichtspunkt wurde das Bundesverfassungsgericht betrachtet, es wurde sogar als der typische Ausdruck dieses Prinzips angesehen, zumal es mit der Befugnis zum Parteiverbot ausgestattet ist. Daß das Bundesverfassungsgericht in der Anfangsperiode seiner Tätigkeit zweimal diese Befugnis ausgeübt hat, hat die kritische Haltung der japanischen Staatsrechtslehre verstärkt“ (so der japanische Verfassungsjurist Hisao Kuriki im Jahr 2002; s. Nachweis im Text).
Dementsprechend kennt Japan keine gegen den politischen Pluralismus gerichtete Verfassungsschutzberichte oder amtliche Warnungen vor Sekten, was in Japan als Nachahmung der „Gedankenpolizei“ (die hieß wirklich so) der 1930er und 1940er Jahre verstanden werden würde. Mit ihrer amtlichen, in der Regel gegen die eigenen Staatsbürger gerichteten ideologischen Bewältigungspolitik ist die Bundesrepublik Deutschland dabei, etwas zu etablieren, was funktional dem im Japan der Nachkriegszeit abgeschafften Staats-Shintō (国家神道 kokka shintō) entspricht, nämlich die Relativierung von Verfassungsnormen durch Überführung in ein zivilreligiöses System einer Gegenentwurfsideologie. Verfehlter Weise wird jedoch im Verfassungsvergleich die aufgrund der Monarchie gelegentliche, systembedingte Transgression der strikten Trennung von Staat und Quasi-Religion in Japan dämonisiert, während die Beeinträchtigung der Freiheitsrechte durch die massive bundesdeutsche Zivilreligion als „demokratisch“ verstanden wird.
Als wesentliche Erklärung für das praktische Gelingen der Bewältigung in Japan und der sicherlich mehr auf ideologischer Ebene gelungenen Bewältigung in der Bundesrepublik Deutschland bietet sich an, daß die Verfassung in Japan als rechtliches Dokument verstanden wird, welches wie die Rechtsordnung generell von den Normadressaten (im Fall der Verfassung ist dies vor allem die Regierung und nicht die Bürger, anders als der „Verfassungsschutz“ meint) zu beachten ist, aber anders als in der bundesdeutschen Zivilreligion nicht auch als quasi-religiöses Dokument begriffen wird. In ideologische Hinsicht sind maßgebliche politische Kräfte in Japan gegen die Verfassung von 1946 eingestellt, was einen Freiraum gewährt und sichert, selbst wenn die schon lange angestrebten Verfassungsänderungen negativer zu beurteilen wären als die bestehende Verfassung. Man darf in Japan ideologischer „Verfassungsfeind“ sein, in der Bundesrepublik Deutschland stellt ideologische Verfassungsfeindlichkeit, deren Berechtigung sich jedoch aus dem Prinzip der Volkssouveränität ableitet, den Kern der Parteiverbotskonzeption und damit die wesentliche Bedrohung der Vereinigungsfreiheit dar.