Kritik der Europaideologie – Teil 2: Staatenpluralismus als Garantie der politischen Freiheit
Josef Schüßlburner
Dieser Beitrag zur Kritik an der Europaideologie zeigt auf, daß entgegen der Weltsicht der politischen Linken, die zunehmend zumindest im Hinblick auf „Europa“ von der (linken) Mitte geteilt wird, das System unabhängiger souveräner Staaten im Interesse der politischen Freiheit (bundesdeutsch: im Interesse der freiheitlichen demokratischen Grundordnung) den Weltstaatsideen und damit auch einem „vertieften Europa“ vorzuziehen ist.
Die Ausführungen lassen sich in 10 Thesen zusammenfassen:
- Der als modern angesehene politische Universalismus (Weltstaatsbestrebungen) repräsentiert im Gegensatz zur Annahme seiner Anhänger die auf religiöser Herrschaftsbegründung beruhende Vormoderne; dieser Universalismus gründet auf der letztlich theologischen Prämisse, wonach der Begriff „Menschheit“, der letztlich eine biologisch-theologische Größe darstellt, eine einheitliche Rechts- und Staatsordnung impliziert: Wie es im Himmel nur eine Sonne gibt, so kann es auf Erden nur eine Herrschaft geben (so der Konfuzianer Menzius).
- Dieser traditionelle politische Universalismus hat eine freiheitsfeindliche Tendenz, die in den Worten des byzantinischen Reichs-Theologen Eusebios zum Ausdruck gebracht worden ist: „Als dann aber der Herr und Heiland erschien und zugleich mit seiner Ankunft Augustus als der erste Römer Herr der verschiedenen Nationen wurde, da löste sich die pluralistische Vielherrschaft auf, und Frieden erfaßte die ganze Erde“; die entsprechende Tendenz des politischen Islam ist wie folgt zu beschreiben: „Selbst wenn jede Gruppe für sich einen entschieden monotheistischen Glauben hätte, wäre die Menschheit insgesamt polytheistisch, da sie ihre zahlreichen religiösen Richtungen nicht als ein und dieselbe identifizieren könnten“ (Zirker).
- Der in (West-)Europa entstandene Staatenpluralismus und die Anerkennung desselben als legitim (Proto-Nationalismus) ist Bestandteil der Trennung von Politik und Religion, die sich als Folge der säkularen Auseinandersetzung zwischen (römisch-deutschen) Kaiser und römisch-katholischen Papst einstellte: Die Weltlichkeit der politischen Herrschaftsbegründung führt zur Erkenntnis, daß eine Vielzahl von Herrschaftsgebieten aufgrund ihrer Sachnähe effektiver und auch menschen-freundlicher ist als die als Universalmonarchie verstandene Universalherrschaft.
- Der Herrschaftspluralismus der Vielstaatlichkeit hat per se eine die Freiheit wahrende Funktion, weil dabei als letzter Ausdruck von Freiheit eine „Abstimmung mit den Füßen“ durchgeführt werden kann, die selbst im Zeitalter der Despotie zur Notwendigkeit einer Mäßigung der Machtausübung führt: So hat der altindische machiavellistische Staatstheoretiker Kautilya in seiner „Arthashastra“ zur Verhinderung der Reichsflucht eine vernünftige Wirtschaftspolitik empfohlen.
- Die Anerkennung des Macht- und Staatenpluralismus in (West-)Europa als legitim und damit die Begründung der auf souveräner Gleichheit seiner Subjekte beruhenden Völkerrechtsordnung ist wesentliche machtpolitische Grundlage für die Entstehung einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung: Mittelfristig waren die Staaten bei der Kriegsfinanzierung erfolgreicher, die sich auf eine entsprechende Wirtschaftsordnung mit gesicherten Eigentumsrechten und wirtschaftlichem Wettbewerb stützen konnten.
- Für den klassischen Liberalismus stellte die Existenz von Außenbeziehungen ein Element der die Freiheit sichernden Gewaltenteilungslehre dar: Bei John Locke ist diese so konstruiert, daß die dritte Gewalt nicht die richterliche ist (die als Teil der Exekutive angesehen wird), sondern in der „föderativen Gewalt“ besteht, also in den besonderen Außenbeziehungen eines Staates, was voraussetzt, daß es Außenpolitik und nicht bloße „Weltinnenpolitik“ gibt.
- Auch nach Übergang zur Gewaltenteilungslehre, wie sie nunmehr allgemein verstanden wird, haben liberale Theoretiker die Bedeutung der Existenz von Außenbeziehungen im demokratischen Zeitalter hervorgehoben: Nach Lord Acton ist die „Förderation (wie der Komplex Staatenpluralismus in der klassischen liberalen Literatur bezeichnet ist, Anm.) „das einzige Mittel, um nicht nur die Herrschaft der Mehrheit, sondern auch die Macht der Volksgemeinschaft zu zügeln“, d.h. der Staatenpluralismus ist auch ein wesentlichen Mittel, Liberalismus und Demokratie kompatibel zu machen.
- Selbst wenn die föderative Gewalt aufgrund von Staatenfusionen von einem völkerrechtlichen Prinzip zu einem innerstaatlichen Verfassungselement mutiert, stellt es bei durchdachter Verfassungskonstruktion (der beim bundesdeutschen Förderalismus nicht vorliegt!) ein entscheidendes Freiheitselement dar: Wenn etwa – so die ursprüngliche Konzeption der US-Verfassung – die theoretisch unbeschränkte Steuererhebungs- und Sozialisierungsgewalt auf der Ebene der Mitgliedsstaaten angesiedelt bleibt und gleichzeitig das gesamtstaatliche Niederlassungsrecht, d.h. die „innere Reichsflucht“ von Mensch und Kapital garantiert ist, dann wird der Gesetzgeber eines Mitgliedstaats / Bundeslandes seine umfassende demokratische Vollmacht nicht in einer unbeschränkten Weise ausüben können, weil er dann die verarmende Abwanderung seiner Bevölkerung riskiert.
- Aufgrund der Zentralisierungstendenz, die der politischen Herrschaft als solcher wegen ihrer Kompetenz-Kompetenz (= Souveränität) immanent ist, kann die die Freiheit wahrende Konstruktion des Föderativprinzips nur durch Anerkennung eines Sezessionsrechts gewahrt werden: Daher sind alles Vorstellungen etwa von der „Irreversibilität“ einer Europa-Entwicklung (H. Kohl) freiheitsfeindlich, wenn nicht gar totalitär; derartige Vorstellungen sind letztlich in ähnlicher Weise absurd als würde man postulieren, daß einem bislang erfolgreichen marktbeherrschenden Unternehmen die Marktanteile „irreversibel“ zustehen müssen.
- Die Anerkennung des Staatenpluralismus als legitimes Element der Sicherung der Freiheit und damit die Verknüpfung von Liberalismus und Nationalstaatskonzeption (Nationalismus), also eine national-liberale Position, könnte sich in Deutschland als mehrheitsfähig erweisen wie sie nunmehr mehrheitlich wohl von der AfD vertreten wird; diese Position sollte nicht in der Zurückweisung des Universalismus bestehen, sondern würde auf ein Aufgreifen der Formel von Johannes Quidort von 1302 hinauslaufen, wonach der Universalismus primär spirituell zu verstehen sei, was im Postulat von Friedrich Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat. Studien zur Genesis des deutschen Nationalstaates von 1928 dergestalt zum Ausdruck gekommen ist, daß das Nationalgefühl das weltbürgerliche Ideal einer übernationalen Humanität einschließt.