Frankfurt 1614: Niederschlagung des Fettmilch-Aufstands / Gedanken zur „klassischen Berufung“ Deutschlands „zur sozialen Revolution“ (Karl Marx)
Josef Schüßlburner
Der Fettmilch-Aufstand in der freien Reichstadt Frankfurt vor 400 Jahren, insbesondere dessen Niederschlagung nach Plünderung der Judengasse, wird vorliegend zum Anlaß genommen, sich mit einer zentralen These von Karl Marx auseinanderzusetzen, wonach Deutschland eine besondere Berufung zur „sozialen Revolution“ zeige, während es zu einer politischen Revolution nicht fähig sei. Karl Marx hat nämlich die zu seiner Zeit gegenüber dem Westen Europas erkannte politische Rückständigkeit Deutschlands vorteilhaft als Voraussetzung für die „soziale Revolution“ als besondere Berufung Deutschlands postuliert, welche radikaler sein sollte als es die Französische Revolution gewesen war. In der Tat muß diese politische, aber auch wirtschaftliche Rückständigkeit Deutschlands, das bis zum 30jährigen Krieg (1618-1648) das Zentrum der europäischen Freiheitsidee und auch des Fortschritts (erwähnt sei nur die Erfindung des Buchdrucks) dargestellt hatte, eingeräumt werden. Man wird diese relative Rückständigkeit auf die Schwächung des städtischen Bürgertums Deutschlands durch den 30jährigen Krieg als deutsche Urkatastrophe zu Beginn der Moderne zurückführen müssen, wobei allerdings die „Verkrustung“ der Stadtherrschaft, wovon in der Regel gesprochen wird, wohl doch eher auf die Zünfte, also auf das gewissermaßen demokratische Element der vormodernen Stadtherrschaft zurückgeführt werden muß, die einer Kapitalisierung der Wirtschaft entgegenstanden und damit eine Dynamisierung der Verhältnisse am meisten verhinderten. Zumindest ist es dem deutschen Bürgertum, anders als dem aus ihm hervorgegangenen der Schweiz oder der Niederlande, nicht gelungen, das mittelalterlich-genossenschaftliche Denken individual-rechtlich zu transformieren, um dabei den Gleichheitsgedanken des städtischen Republikanismus auf eine größere Einheit auszuweiten, nämlich die Nation als maßgebend für die republikanische Herrschaftskonzeption.
Die Klassenkampftheorie von Karl Marx setzt konzeptionell die vormodernen Standeskämpfe fort und will den Sieg der Zünfte als „Arbeiterbewegung“ im Nachhinein durch die Ablehnung der Individualrechte sichern, die in der vormodernen Stadtherrschaft in Form von wirtschaftlichen Rechten im weitesten Sinne existiert hatten und dabei dem städtischen Patriziat die Vorrangstellung gesichert hatten, um durch die „soziale Revolution“ die weitgehend kollektiv verstandenen (Standes-)Rechte der Arbeiterklasse weiter zu stärken. Diese Konzeption der sozialen Revolution verkennt allerdings die Voraussetzungen des Rechtsstaats, die in der Zurückweisung der ökonomischen Herrschaftsbegründung besteht. Stellt danach das, was als „Kapitalismus“ bekämpft wird, eine relativ unabhängig von den Staats- und Regierungsformen bestehende Herrschaftsform dar, bei der mit Hilfe von verzinslichen Schuldtiteln durch Vollstreckungsakte die eigentliche Macht ausgeübt wird, dann bedeutet „soziale Revolution“, welche diese kapitalistische Herrschaftsordnung überwinden will, fast notwendigerweise auch einen Kampf gegen das Judentum. Diesem war in der Vormoderne das Geldgeschäft zugewiesen worden, so daß das Funktionieren des Wirtschaftssystems von den jüdischen Zinsprivilegien abhing, was dazu geführt hat, daß in den Standeskämpfen die Obrigkeit für die Juden eingetreten ist, während seit dem Hochmittelalter bis weit in das 19. Jahrhundert – und, unter Gestaltwandel, womöglich bis in das 20. Jahrhundert hinein – unterbürgerliche, „demokratische“ Bewegungen in der Stadt immer zugleich einen antijüdischen Charakter getragen haben (Rainer Koch). Diese Konstellation wird im Zusammenhang mit dem Fettmilch-Aufstand vor 400 Jahren belegt. Antikapitalismus und Antisemitismus haben deshalb in Deutschland weitgehend dieselbe Wurzel. Die Vertreibung der Juden war auch vor 400 Jahren in Frankfurt wegen zu hoher Zinsen erfolgt, die den Handwerker an den Bettelstab bringen würden. Die Juden waren dabei als Helferhelfer des patrizische Rats und seiner Unterdrückungsmethoden ausgemacht worden. Deshalb ist der Sozialismus als Fortsetzung der Standeskämpfe in Form des Klassenkampfes, der dann auch so etwas wie einen „Rassenkampf“ impliziert, schon von vornherein mit dem Nationalsozialismus schwanger gegangen.
Es konnte nicht ausbleiben, daß sich die konzeptionelle Fortsetzung der Vormoderne durch sozialistische Theorien, die in der Verkennung von Rechtsstaat und demokratischem Nationalstaat bestehen, Auswirkungen auf politische Erscheinungen und verfassungsrechtliches Verständnis des 20. Jahrhunderts in Deutschland zeitigen sollten. Auch der gemäßigte Sozialismus argumentiert über die Grundrechtssubstanzen umverteilende Sozialstaatskonstruktion, die erfunden wurde, um den Übertritt der Sozialdemokratie auf den Boden der rechtsstaatlichen Verfassung möglich zu machen, mit einer Demokratiekonzeption, die es erlaubt, einerseits Demokratie über eine zunftkonzeptionelle Mitbestimmung als „Demokratisierung der Wirtschaft“ zu Lasten der wirtschaftlichen Freiheit auszudehnen, um Demokratie gleichzeitig auf der eigentlichen politischen Ebene etwa durch demokratieideologisch begründete Parteiverbote, die zu einer anderen Verteilung der Wahlkampfkostenerstattung führen, einzuschränken. Für diesen Komplex steht etwa auch eine Gleichheitspolitik, die es erlaubt, politischen Gegnern der Gleichheitspolitiker privatrechtlich die Hotelübernachtung zu verwehren. Damit wird die Trennung nicht nur von Ideologie und Politik, sondern auch von Wirtschaft als Herrschaftskonzeption und Politik, was den Rechtsstaat fundamental kennzeichnet, sozialistisch-vormodern widerrufen. Konkret droht dem rechtsstaatlich konzipierten Grundgesetz eine Interpretation und Anwendung, die es an die antifaschistisch-demokratische Verfassung der DDR von 1949 heranführt.
Gerade dieser historisch bedingte Gefährdungen der Demokratie in Deutschland aufzeigende Komplex würde es rechtfertigen, Vorgängen wie dem Fettmilch-Aufstand in der freien Reichsstadt Frankfurt vor 400 Jahren, der eine geraffte Vorwegnahme der Revolutionen von 1918 und 1933 darstellt, einen Platz in der bundesdeutschen Gedenkpolitik zuzuweisen. Zumindest die Verknüpfung von „demokratischen“ Forderungen der Zünfte gegen das Patriziat, die dabei mit Forderungen und Maßnahmen gegen Juden verbunden waren, müßte dieses geschichtliche Ereignis für die amtliche Erinnerungspolitik attraktiv machen. Dies scheitert erkennbar daran, daß sich geschichtliche Entwicklungen doch komplexer darstellen als dies in der amtlichen „Bewältigung“ mit extremistisch vereinfachenden Schuldzuweisungen „gegen rechts“ zum Ausdruck kommt.
Hinweis
Die vorliegende Abhandlung stellt eine Ergänzung zur Veröffentlichung des Verfassers über den Sozialismus dar:
Josef Schüßlburner
Roter, Brauner und Grüner Sozialismus. Bewältigung ideologischer Übergänge von SPD bis NSDAP und darüber hinaus,
2008, Lichtschlag Medien und Werbung KG, 24,80 Euro
ISBN-10: 3939562254, ISBN-13: 978-3939562252
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