Das Jahr 1989

1989
Anarchisten/„anarcho-syndikalistische Gruppen“/anarchistische „Gewaltfreie Aktionsgruppen“

Anarchistische Gruppierungen hatten auch 1989 weiteren Zulauf und konnten in 50 Städten „Infoläden“ und „libertäre Zentren“ einrichten. Bewußt verzichten sie auf den Aufbau von gruppenübergreifenden Organisationsstrukturen und verbreiten ihre ideologischen Ziele durch zahlreiche Publikationen. „Anarcho-syndikalistische“ und „anarcho-kommunistische“ Gruppen: Mit ihren 20 Ortsgruppen versucht die „Freie ArbeiterInnen-Union“ (FAU), durch den Aufbau einer basisdemokratischen, parteiunabhängigen Gewerkschaft die herrschaftslose, ausbeutungsfreie, auf Selbstverwaltung basierende Gesellschaft zu errichten. Mit Hilfe ihrer Kampfform der „direkten Aktion“ (Sabotage, Fabrikbesetzung, Boykott) versuchen sie dieses Ziel durchzusetzen, wobei sie jegliche parlamentarische Arbeit ablehnen. Demgegenüber treten die „anarcho-kommunistischen“ Gruppen für eine soziale Revolution ein, deren Ziel die klassenlose, freie Gesellschaft ist.
Verfassungsschutzbericht 1989

1989
Revolutionäre Zellen (RZ)/Rote Zora (Frauenorganisation)

Die RZ bekennen sich 1989 zu vier Terrorakten. Ihr Themenschwerpunkt ist nach wie vor die Flüchtlings- und Asylantenproblematik. Aus diesem Grunde werden am 9. 5. 1989 das OVG Münster und das VG Düsseldorf zu Anschlagszielen. Den für Asylangelegenheiten zuständigen Richtern werfen sie vor, das Asylrecht als Waffe für den internationalen Klassenkrieg zu mißbrauchen. Die Frauenorganisation Rote Zora und die Nachahmerorganisationen verüben keine Anschläge. Im Februar 1989 veröffentlichen die RZ ein Diskussionspapier, in dem sie die Unterdrückung der Frauen in der dritten Welt und in Südafrika angreifen.
Verfassungsschutzbericht 1989

1989/90
Radikale Linke

Die „Radikale Linke“, eine Sammlungsbewegung linksextremer Gruppierungen, fordert unter dem Motto „Nie wieder Deutschland“ u. a. zum Wahlboykott bei der Bundestagswahl auf. Zu der „Radikalen Linken“ gehören neben den ehemaligen Grünen-Funktionären Ebermann und Trampert auch Jutta Ditfurth, DKP-„Dissidenten“ etc.
APuZ, 10. 1. 1992

Januar 1989
1. Antifa-Kongreß in Bremen

Im Januar findet in Bremen der erste bundesweite „Antifa-Kongreß“ unter dem Motto „Leben und Lieben, dem Haß keine Chance“ statt. Um das Motto gibt es jedoch Querelen, da viele Linksgruppen nicht zu einem Verzicht auf Aktionen gegen die politischen Rechten (z. B. Gegendemonstrationen) bereit sind. Auf einem Folgetreffen in Nürnberg Ende April werden dann auch deutlichere Worte gefunden: Eine Resolution, vom jungsozialistischen SPD-Nachwuchs und der „Deutschen Journalisten-Union“ mitgetragen, billigt „alle Formen“ des Widerstandes, „von der Überzeugungsarbeit bis hin zu militanten Verhinderungsaktionen“.
Der Spiegel, 23/1989, S. 53

2. Januar 1989
Anschlag auf Biochemisches Institut

Auf das Biochemische Institut der Technischen Hochschule Darmstadt wird ein Brandanschlag verübt, der einen Sachschaden von mehr als 2 Mio. Mark verursacht. In einem Schreiben an das Frankfurter Büro der Deutschen Presse-Agentur bekennt sich eine autonome Gruppe „Zornige Viren“ zu dem Anschlag. Darin heißt es, die Bio-Gentechnologie stehe „an vorderster Stelle“ der neuen Industrien, „die unter alleiniger Verfügungsgewalt des westlichen Imperialismus langfristige Profitquellen garantieren sollen“.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4. 1. 1989

17. Januar 1989
Verurteilung des Physiklehrers Fritz Storim

Das Oberlandesgericht in Hamburg verurteilt den arbeitslosen Physiklehrer Fritz Storim (49) zu einem Jahr Haft ohne Bewährung wegen „Unterstützung einer terroristischen Vereinigung“, weil er am Abdruck terroristenfreundlicher Texte im Anarcho-Blättchen „Sabot“ beteiligt war. Die Deutsche Journalisten-Union befürchtet angesichts des Hamburger Verfahrens „eklatante Eingriffe in die Pressefreiheit“. Der Hamburger Strafrechtsprofessor Heribert Ostendorf meint, daß die Justiz das politische Strafrecht „nicht mehr als Verteidigungsinstrument unseres Gemeinwesens, sondern als Angriffsinstrument auf abweichende politische Anschauungen“ verwendet.
Der Spiegel, 4/1989, S. 84 f.

14. Februar 1989
Beginn des Prozesses gegen Ingrid Strobl

Vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf beginnt der Prozeß gegen die feministische Schriftstellerin und vormalige „Emma“-Redakteurin Ingrid Strobl (36). Sie war kurz vor Weihnachten 1987 im Zusammenhang mit dem Anschlag auf das Verwaltungsgebäude der Lufthansa in Köln am 28. 10. 1986, zu dem sich die „Revolutionären Zellen“ (RZ) bekannt hatten, festgenommen worden (siehe Mai 1990).
Der Spiegel, 7/1989, S. 64 f.

22. März 1989
„Hungerstreikbüro“ durchsucht

Etwa 60 Polizeibeamte durchsuchen das „Hungerstreikbüro“, das Sympathisanten der terroristischen „Roten-Armee-Fraktion“ (RAF) im seit 25 Tagen besetzten Stuttgarter Büro der Grünen eingerichtet haben. Dabei werden die Personalien von 29 Personen festgestellt, gegen die nun ein Ermittlungsverfahren wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung eingeleitet werden soll. Die Besetzung ihrer Landesgeschäftsstelle veranlaßt die Grünen, den RAF-Sympathisanten in Stuttgart ein Büro anzubieten. Sie seien bereit, im Stuttgarter Osten für monatlich 250 Mark einen Raum zu mieten, der als „Büro zur Humanisierung der Haftbedingungen von RAF- und anderen Gefangenen“ dienen soll.
Die Welt, Bonn, 23. 3. 1989; Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23. 3. 1989

2. Mai 1989
Anschlag auf Daimler-Benz-Filiale

Auf eine Niederlassung der Daimler-Benz AG in Freiburg wird ein Brandanschlag verübt, der einen Sachschaden von ca. 100.000 Mark verursacht. In einem in Tatortnähe gefundenen Bekennerschreiben wird die Zusammenlegung von Häftlingen der „Roten-Armee-Fraktion“ (RAF) gefordert.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3. 5. 1989

Mitte Mai 1989
“Autonome”

Im Zuge der verstärkten Aktionen linker Gruppen gegen Rechtsextremisten greifen „Autonome“ den Wittener Metallformerlehrling Andreas Sievert (19) an, der als Mitglied der „Freiheitlichen Arbeiterpartei“ (FAP) bekannt ist. Mit der Drohung: „Jetzt wirst du eingemacht“ erzwingen die „Autonomen“ Informationen. Auf Fotos identifiziert er das FAP-Umfeld und einige regional aktive Republikaner, berichtet über Treffpunkte und Kameradschaftsabende. Wenige Tage später dringen vier Männer, als Polizeisondereinheit getarnt, in die Wohnung des Hamburger FAP-Anhängers Christian Worch (33) ein. Sie fesseln ihn und flüchten mit rund 50 Aktenordnern, die Unterlagen über die „Nationale Liste“ enthalten. Die Verfassungsschützer gehen davon aus, daß Worch das Opfer eines speziellen „Ermittlungskommandos“ der Hamburger „Antifaschistischen Aktion“ ist.
Der Spiegel, 23/1989, S. 56

30. Mai 1989
Anschlag auf Braunschweiger Stadtdirektor

Auf das Auto des Braunschweiger Stadtdirektors Udo Kuhlmann wird ein Brand­anschlag verübt. In einem anonymen Schreiben bekennt sich eine Braunschweiger Gruppe zu dem Anschlag. „Er verantwortet den Terror gegen Flüchtlinge über Abschiebung in Folterstaaten“, heißt es in dem Brief. Bereits vor einem Jahr waren Anschläge auf die Privatwohnung des Braunschweiger Chefs der Kriminalpolizei und auf das Auto des Braunschweiger Oberstadtdirektors verübt worden.
Hannoversche Allgemeine, 1. 6. 1989

17. November 1989
Tod einer Demonstrantin in Göttingen

Nach einer Demonstration der „autonomen“ Szene in Göttingen wird die 24jäh­rige Studentin Conny Wissmann auf der Flucht vor der Polizei von einem Auto erfaßt und getötet. Die Linksextremisten sprechen von „Mord oder zumindest fahrlässiger Tötung“. Es folgt eine Woche voller Auseinandersetzungen. Als Reaktion auf eine gewalttätige Demonstration der „autonomen“ Szene am 25. 11. paßt sich die Polizei an. Sie setzt auf die sogenannte „Deeskalationstaktik“: Solange die Demonstration gewaltfrei abläuft und kein großer Sachschaden entsteht, verzichtet die Polizei auf starke Präsenz und läßt die Demonstranten gewähren.
Süddeutsche Zeitung, München, 27. 9. 1994

30. November 1989
Mordanschlag auf den Chef der Deutschen Bank Alfred Herrhausen

Auf der Fahrt zu seinem Arbeitsplatz wird Alfred Herrhausen (59), Vorstandssprecher der Deutschen Bank, in Bad Homburg bei der Explosion einer 50-Kilo-Bombe getötet. Die Detonation der Bombe, die auf einem am Straßenrand abgestellten Fahrrad angebracht worden war, wird ausgelöst, als Herrhausen in seinem Dienstwagen durch eine auf der Straße installierte Lichtschranke fährt. Am Tatort finden die Fahnder ein weißes DIN-A5-Blatt mit dem Emblem der „Roten-Armee-Fraktion“ (RAF). Als tatverdächtig gilt vor allem Christoph Seidler (31), der u. a. auch an den Mordanschlägen auf Ernst Zimmermann (1. 2. 1985), Karl Heinz Beckurts (9. 7. 1986) und den Bonner Finanz-Staatssekretär Hans Tietmeyer (20. 9. 1988) beteiligt gewesen sein soll. Zweiter Mann am Tatort, mutmaßen BKA-Insider, könnte Henning Beer (31) gewesen sein, Bruder des 1980 tödlich verunglückten RAF-Mitglieds Wolfgang Beer, nach dem die Herrhausen-Aktion („Kommando Wolfgang Beer“) benannt wurde. Der Beteiligung an der Tat verdächtigt ist auch Horst Meyer (33), der als Spezialist für Zündvorrichtungen gilt und schon beim Bombenanschlag auf Beckurts beteiligt gewesen sein soll.
Der Spiegel, 49/1989, S. 14 ff.

4. Dezember 1989
Internationale Querverbindungen des Terrorismus

Nachdem die Zusammenarbeit der „Roten Armee Fraktion“ (RAF) und der französischen „Action directe“ (AD) mit der Verhaftung der führenden AD-Leute im Januar 1987 endete, unterhält die RAF jedoch weiterhin gute Beziehungen zu anderen ausländischen Terroristengruppen. Das berichtet das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“. Nach Ansicht der Ermittler funktioniere weiterhin der Kontakt mit den in Belgien operierenden „Cellules Communistes Combattantes“ (CCC), den portugiesischen „Forcas populares 25 de abril“ und der griechischen „Revolutionären Gruppe Internationale Solidarität Christos Kasimis“; Staatsschützer halten überdies Verbindungen zur spanischen „Grapo“ für möglich.
Der Spiegel, 49/1989, S. 16

4. Dezember 1989
Organisationsstruktur der „Roten-Armee-Fraktion“ (RAF)

Das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ berichtet über die viergliedrige Organisationsstruktur der RAF, wie sie von Angehörigen der dritten Generation erfunden worden ist: „Guerillas“ nennen sich die Untergrund-Mitglieder der Kommandoebene, die Morde begehen. „Militante“ oder „Widerstand“ werden kleine Kader genannt, die zumeist in der Legalität leben und gelegentliche Sprengstoff­anschläge verüben. „Legale Unterstützer“ und „Agitatoren“ sorgen für Kommunikation und Logistik. Die „Gefangenen der RAF“ tragen durch Hungerstreik zur Mobilisierung neuer Anhänger bei. Informationen des Nachrichtenmagazins zufolge wollen die Fahnder drei regionale Schwerpunkte der Kommandoebene ausgemacht haben: eine Gruppe in Baden-Württemberg, zu der das Ehepaar Barbara (33) und Horst Meyer (33) gehört, das zu den Gründern der dritten Generation zählt, dazu wird auch Christoph Seidler (31) gerechnet; eine Rhein-Main-Gruppe unter anderem mit Andrea Klump (32), Birgit Hogefeld (33) und Wolfgang Grams (36); eine Hamburger Gruppe, Mitglieder: Sabine Callsen (28), Sigrid Sternebeck (40) und Henning Beer (31).
Der Spiegel, 49/1989, S. 17

7. Dezember 1989
Verhaftung von RAF-Terroristen

Die mutmaßlichen RAF-Terroristen Holger Deilke und Ute Hladki, die nach Ansicht von Verfassungsschutzchef Gerhard Boeden „zum harten Kern gehören“, werden bei Husum unter dem Verdacht festgenommen, einen Terroranschlag der RAF vorbereitet zu haben. In den bei der Festnahme sichergestellten Unterlagen befinden sich nach Angaben von Boeden „eine Reihe von Namen aus dem Wirtschaftsbereich“, die Ziele möglicher Attentate sein könnten, und darüber hinaus Blätter, auf denen Verstecke der RAF notiert sind und die „ganz neue Einblicke in die Organisationsstrukturen“ bieten.
Der Spiegel, 50/1989, S. 95

10. Dezember 1989
Anschlag auf Forschungszentrum der Bayer AG verhindert

Eine „Kämpfende Einheit Sheban Atlouf/Conny Wissmann“ plaziert einen Sechs-Kilo-Sprengsatz im Pflanzenforschungszentrum der Bayer AG in Monheim bei Leverkusen. Der Anschlag wird im letzten Augenblick verhindert.
Der Spiegel, 11/1990, S. 114

Zusammengestellt von Hans-Helmuth Knütter und Alexander Helten

Abkürzungen der Literaturangaben
AL = Michael Bühnemann u. a. (Hg.): AL. Die Alternative Liste Berlin. Berlin 1984
APuZ = Aus Politik und Zeitgeschichte
Backes = Uwe Backes / Eckhard Jesse: Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland. Bonn 1996
BPA-Bulletin = Bulletin des Bundespresseamtes (Bonn)
Schlomann = Friedrich W. Schlomann: Die Maulwürfe. Berlin 1994

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