Das Jahr 1989

1988
Anarchisten/„anarcho-syndikalistische“ Gruppen

Im Jahre 1988 nahm die Anzahl anarchistischer Gruppierungen und „Libertärer Zentren“ zu. Die Gruppen haben meist keine festen Organisationsstrukturen. Besonders Randgruppen stellen für anarchistische Gruppen „revolutionäres Potential“ dar. „Anarcho-syndikalistische“ und „anarcho-kommunistische“ Gruppen: Die Schaffung gewalttätiger Gewerkschaften als Träger revolutionärer Kämpfe dient der Durchsetzung ihres politischen Ziels der „herrschaftslosen, ausbeuterfreien Gesellschaft“. Die 20 Gruppen der „Freien Arbeiterinnen- und Arbeiter-Union“ (FAU), die mit der „Internationalen Arbeiter-Assoziation“ (IAA) zusammenarbeiten, propagieren auch direkte Aktionen wie Fabrikbesetzung, Boykott und Sabotage­akte. Die verschiedenen anarcho-kommunistischen Gruppen fordern eine Vernichtung des kapitalistischen Staates, um so die klassen- und herrschaftslose Gesellschaft zu erreichen. Ihr Wirkungbereich konnte auf die Bundesländer Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen ausgeweitet werden.
Verfassungsschutzbericht 1988

1988
Revolutionäre Zellen (RZ)/Rote Zora (Frauenorganisation)

Die terroristischen Aktivitäten gehen gegenüber dem Vorjahr dank verstärkter polizeilicher Ermittlungen weiter deutlich zurück. In diesem Zusammenhang werden zahlreiche Wohnungen durchsucht, zwei Frauen inhaftiert, und gegen vier noch flüchtige Personen ergeht Haftbefehl. Die RZ verüben 1988 „lediglich“ sechs Brandanschläge; Sprengstoffanschläge und Körperverletzungsdelikte werden nicht verzeichnet. Die Rote Zora verübt einen Anschlag auf das Biologische Zentrum der technischen Universität Braunschweig. Nach Auffassung der Frauenorganisation hat die Bio- und Gentechnologie eine entscheidende Schlüsselfunktion als reines Repressionsmittel zur Unterdrückung und Benachteiligung von Bevölkerungsgruppen inne. Zur Rekrutierung und Radikalisierung von Sympathisanten aus dem Spektrum der Frauenbewegung versendet die Rote Zora eine 49seitige Broschüre mit dem Titel „Praktische Tips Rote Zora“. Die Schrift soll zur Weitergabe von gesammelten Erfahrungen dienen, wie z. B. die Herstellung von Brand- und Sprengsätzen. Gewalttätige „Autonome“, die das Konzept der RZ übernehmen, treten erstmals mit fünf Brandanschlägen als Nachahmer in Erscheinung. Als Schwesterorganisation der „Roten Zora“ gibt sich die Gruppierung „Amazonen“ aus. Sie verüben vier Brandanschläge gegen Sexshops, um damit gegen die sexuelle Diskriminierung und Ausbeutung der Frau zu protestieren.
1988
Verfassungsschutzbericht


3. Februar 1988
Vermummte demolieren Französisches Institut

Etwa 50 Vermummte dringen in das Französische Institut im Frankfurter Universitätsviertel Bockenheim ein, besprühen die Wände mit roter Farbe und reißen Buchregale um. Es gehen Computer, Schreibmaschinen, Radios und Fensterscheiben zu Bruch. Als der Direktor des Instituts einschreiten will, wird er mit Hammer und Schlagstock bedroht und in ein Zimmer gesperrt. Die Täter rufen: „Für die Gefangenen der ,Action directe‘, die sich im Hungerstreik befinden.“ Mit der Aktion erklären sie ihre Solidarität mit der französischen Terrororganisation, von der zur Zeit 19 Mitglieder in Paris vor Gericht stehen.
Frankfurter Neue Presse, 4. 2. 1988

9. Februar 1988
Anschlag auf Auto eines Berliner Historikers

Auf das Auto des Professors für Geschichte an der Freien Universität (FU) Berlin, Ernst Nolte, wird ein Brandanschlag verübt. Das auf dem Parkplatz des FU-Geländes abgestellte Fahrzeug geht in Flammen auf. Zu dem Anschlag geht am 10. Februar im Berliner Büro der Deutschen Presse-Agentur ein anonymer Bekennerbrief ein. In dem mit einem fünfzackigen Stern signierten Schreiben heißt es: „Wir greifen Nolte an, weil er einer derjenigen ist, die in ihrer Person die Kontinuität von Faschismus und BRD-Staat verkörpern.“
Frankfurter Rundschau, 11. 2. 1988

11. Februar 1988
Anschlag auf Anwaltskanzlei

Auf eine Frankfurter Anwaltskanzlei wird ein Brandanschlag verübt, der einen Sachschaden von 250.000 Mark verursacht. Die Anwälte waren durch Verwaltungsgerichtsverfahren im Zusammenhang mit der Startbahn West bekannt geworden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12. 2. 1988

1. März 1988
Anschlag auf Renault-Niederlassung

Auf eine Niederlassung der französischen Firma Renault-Landtechnik in Rosbach im hessischen Wetteraukreis wird ein Brandanschlag verübt, der einen Sachschaden von ca. 600.000 Mark verursacht. Im Zuge der Fahndung werden Bernhard Rosenkötter, Michael Dietiker und Heinrich Jansen festgenommen. Letzterer ist 1973 als Mitglied der Baader-Meinhof-Gruppe verurteilt worden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2. 3. 1988, 3. 3. 1988; Die Welt, 3. 3. 1988

17. April 1988
Brandstiftung in Wackersdorf

Gewalttätige Gegner der Wiederaufbereitungsanlage (WAA) für Kernbrennstoffe in Wackersdorf legen an fünf Stellen im Umkreis der WAA Feuer.
Die Welt, Bonn, 19. 4. 1988

1. Mai 1988
Mai-Krawalle in Berlin

Am Maifeiertag kommt es in Berlin (Kreuzberg) zu Krawallen von „Autonomen“, bei denen ca. 100 Menschen verletzt und 134 festgenommen werden. Sicherheitsexperten werten die Gewalttaten als Generalprobe für Störaktionen gegen die im Herbst bevorstehende Weltbanktagung. Die „Autonomen“ kündigen in Sprechchören schon an, die „internationale Völkermord-Zentrale“ West-Berlin lahmzulegen. Den „Bonzen, Bossen und Bankern“ sollen „ungemachte Betten und stressige Nächte voller Alpträume“ bereitet werden.
Der Spiegel, 19/1988, S. 96, und 40/1988, S. 132

15. Mai 1988
Urteil gegen DKP-Aktivisten

Die Disziplinarkammer beim Verwaltungsgericht Hannover entfernt den Sport- und Englischlehrer Karl-Otto Eckartsberg wegen Aktivitäten für die Deutsche Kommunistische Partei (DKP) abermals aus dem Dienst. Beim ersten Urteil von 1983 wurde dem Lehrer seine Kandidatur angelastet, jetzt die Übernahme von Funktionen innerhalb der DKP.
Frankfurter Rundschau, 16. 5. 1988

26. Mai 1988
Erklärung des Bundesinnenministers Zimmermann zum
Verfassungsschutzbericht 1987

Die Zahl der linksextremistischen Gewalttaten ging zurück (1987: 1.497; 1986: 1.902). Die Zahl linksextremistisch und terroristisch motivierter Brand- und Sprengstoffanschläge ist im Jahr 1987 mit 238 erstmals seit Jahren wieder gesunken. Die Mitgliederzahl bei den Linksextremisten ging leicht zurück. Die „Rote-Armee-Fraktion“ (RAF) hat keine Terrorakte verübt.
BPA-Bulletin

20. Juni 1988
„Stellungskrieg“ in Berlin

Die Westberliner Polizei feuert Salven von Tränengas in das größtenteils von „Autonomen“ besetzte Lenné-Dreieck in Berlin und verletzt dabei einige Besetzer durch Direkttreffer. Hintergrund ist, daß hundert Besetzer dort eine Budenstadt gezimmert haben. „Norbert-Kubat-Dreieck“ heißt nun das Terrain, an einen jungen Mann erinnernd, der im letzten Jahr nach Krawallen in Haft gekommen war und sich das Leben genommen hatte. Zuerst hatten sich im Mai Naturschützer der vier Hektar großen Brachfläche, die eigentlich zum sowjetischen Sektor gehört, aber diesseits der „Mauer“ liegt, bemächtigt, da seit langem Senatsplaner das Dreieck für Bauzwecke beanspruchen. Als Polizei gegen die Besetzer vorging, erhielt das Gebiet Zulauf aus Kreuzbergs „Autonomen-Kreisen“. So eskalierte die Szene. Auf Plakaten kann man „Zerschlagt die NATO“, „Briten raus aus Nordirland“ oder „Pol Pot contra Pol. Präs.“ lesen.
Der Spiegel, 26/1988, S. 60

28. Juni 1988
Verurteilung von RAF-Mitgliedern

Der 5. Strafsenat des Oberlandesgerichts Stuttgart verurteilt das RAF-Mitglied Eva Sybille Haule-Frimpong nach zehnmonatiger Verhandlungsdauer zu einer Freiheitsstrafe von 15 Jahren. Sie wird u. a. im Zusammenhang mit einem mißglückten Bombenanschlag auf die NATO-Schule in Oberammergau des 43fachen Mordversuchs für schuldig befunden. Zwei Mitangeklagte aus dem engeren Umfeld der „Roten-Armee-Fraktion“ (RAF), Christian Kluth (29) und Luitgard Hornstein (25), werden zu zehn und vier Jahren Haft verurteilt. Der Senat sieht es als erwiesen an, daß Kluth wie Haule-Frimpong an dem Bombenanschlag gegen die Friedrichshafener Firma Dornier im Juli 1986 beteiligt waren. Luitgard Hornstein wird, entgegen der Anklage, lediglich der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, der Urkundenfälschung und des Mißbrauchs von Ausweispapieren für schuldig befunden.
Die Welt, Bonn, 29. 6. 1988

5. August 1988
Anschlag auf Vorstandsmitglied der Kreditanstalt für Wiederaufbau

Auf das Haus eines Vorstandsmitglieds der Kreditanstalt für Wiederaufbau in Frankfurt wird ein Brandanschlag verübt. Bei dem – nicht explodierten – Brandsatz wird ein Bekennerschreiben mit dem Hinweis „Komitee für einen flammenden Widerstand gegen die IWF-Tagung“ gefunden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6. 8. 1988

5. September 1988
Brandanschläge auf Siemens-Fahrzeuge

In Berlin werden auf Fahrzeuge des Elektrokonzerns Siemens Brandanschläge verübt, bei denen insgesamt 25 Fahrzeuge, darunter eine Anzahl Privatwagen, beschädigt oder zerstört werden. In einem Schreiben bekennen sich „Autonome Zellen“ zu dem Anschlag. In ihm heißt es: „Am 5. 9. 88, im Vorfeld der IWF-Weltbanktagung, haben wir in mehreren Westberliner Stadtteilen zeitgleich 13 Fir­menfahrzeuge der Siemens AG in Brand gesetzt“.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6. 9. 1988, und Der Tagesspiegel, Berlin-West, 7. 9. 1988

19. September 1988
Vermummte stürmen Veranstaltung

Mehr als 30 vermummte Gewalttäter stören in der Katholischen Akademie in Hamburg eine von der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung ausgerichtete Tagung über die Politik des Internationalen Währungsfonds (IWF). Die vermummten und mit Stöcken bewaffneten Täter dringen gegen 18 Uhr in das Gebäude ein und überrennen die vor dem Veranstaltungssaal postierten Zivilpolizisten. Sie stürmen zum Podium und schlagen auf die Teilnehmer einer von 150 Zuhörern besuchten Diskussion zum Thema „IWF und die dritte Welt – Alternativen zu einer festgefahrenen Politik“ mit Knüppeln ein. Einer der Teilnehmer wird mit Tierblut übergossen, drei weitere verletzt. Nach zwei Minuten verlassen die Täter fluchtartig den Saal, versprühen im Foyer Buttersäure und verschwinden unerkannt. Verletzt werden der deutsche Exekutivdirektor des Internationalen Währungsfonds Günter Grosche und der SPD-Bundestagsabgeordnete Prof. Ingomar Hauchler.
Die Welt, Bonn, 21. 9. 1988; Der Spiegel, 39/1988, S. 27

20. September 1988
Anschlag auf Dr. Hans Tietmeyer

Zwei unbekannte Täter schießen in Bonn-Bad Godesberg mit einer Langwaffe mindestens dreimal auf das Fahrzeug des Staatssekretärs im Bundesfinanzministerium, Dr. Hans Tietmeyer (57). Er selbst und sein Fahrer bleiben jedoch unverletzt. Am Tag nach dem Anschlag bekennt sich ein „Kommando Khaled Aker“ der „Roten-Armee-Fraktion“ (RAF) und der italienischen Terrororganisation „Rote Brigaden“ zu dem Anschlag. Geplant waren ursprünglich offensichtlich parallele Aktionen in der Bundesrepublik und in Italien gegen den „Ökonomisch-politischen Sektor“ – Anschläge auf Tietmeyer und auf einen hohen Beamten des italienischen Außenministeriums. Aufgrund eines unlängst von „RAF und Roten Brigaden“ verfaßten Einigungspapiers, von dem Staatsschützer vor rund drei Wochen ein Exemplar erhielten, mußten sie mit einem Anschlag rechnen.
Der Spiegel, 39/1988, S. 26 f.

4. Oktober 1988
Festnahme eines mutmaßlichen RAF-Terroristen

In der Düsseldorfer Kiefernstraße wird der 26jährige Rolf Hartung aufgrund des Verdachts der Mitgliedschaft in einer „Kämpfenden Einheit“ der „Roten-Armee-Fraktion“ (RAF) festgenommen. Hartung soll an den Anschlägen auf das Bundesamt für Verfassungsschutz in Köln am 8. 9. 1986 und den Flugzeughersteller Dornier in Immenstaad beteiligt gewesen sein. Wegen des Anschlags auf das Dornier-Werk waren bereits 1986 die ebenfalls in besetzten Häusern der Düsseldorfer Kiefernstraße wohnenden Terroristen Christian Kluth, Luitgard Hornstein und Eva Sybille Haule-Frimpong verhaftet worden. Noch vor wenigen Wochen hatte der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Schnoor (SPD) erklärt, die Kiefernstraße sei „kein Hort des Terrorismus“.
Die Welt, Bonn, und Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5. 10. 1988

9. Oktober 1988
Anschlag auf AEG-Betrieb

Auf das Verwaltungsgebäude der Firma AEG-Marinetechnik in Bremen wird ein Sprengstoffanschlag verübt, der erheblichen Sachschaden verursacht. In einem Schreiben bekennt sich eine „Autonome Zelle Steve Biko“ zu dem Anschlag. Ziel des Anschlags sei die „wirksame Zerstörung des Betriebes“ gewesen, heißt es in dem Bekennerschreiben.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12. 10. 1988

2. Dezember 1988
Vermummte verwüsten Ausstellung

Zehn bis zwanzig vermummte Demonstranten verwüsten die Gedenkausstellung zum 50. Jahrestag der Entdeckung der Atomspaltung im Lichthof der Technischen Universität Berlin knapp eine Stunde vor ihrer Eröffnung. Die Täter zertrümmern zahlreiche Ausstellungsstücke, teilweise kostbare Leihgaben des Deutschen Museums in München. Bei dem Blitzüberfall wird ein Handwerker so schwer verletzt, daß er ins Krankenhaus eingeliefert werden muß. Der Organisator der Ausstellung, Lemmerich, kommentiert die Übergriffe, hier seien nicht kostbare Geräte zu Bruch gegangen, sondern die Demokratie.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3. 12. 1988

Zusammengestellt von Hans-Helmuth Knütter und Alexander Helten

Abkürzungen der Literaturangaben
AL = Michael Bühnemann u. a. (Hg.): AL. Die Alternative Liste Berlin. Berlin 1984
APuZ = Aus Politik und Zeitgeschichte
Backes = Uwe Backes / Eckhard Jesse: Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland. Bonn 1996
BPA-Bulletin = Bulletin des Bundespresseamtes (Bonn)
Schlomann = Friedrich W. Schlomann: Die Maulwürfe. Berlin 1994

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