Wahlrechtskritik 1. Teil

Wahlrechtskritik 1. Teil: Wahlrecht mit Verbotswirkung: Die Aussperrklausel

Josef Schüßlburner

(19.05.2022) Scheitert die Oppositionspartei Alternative für Deutschland (AfD) nunmehr an der Sperrklausel des Wahlrechts? Diese Partei ist bei der Landtagswahl in Schleswig-Holstein am 8. Mai 2022 erstmals seit ihrer Quasi-Etablierung mit 4,4 Prozent Stimmen an dieser Sperrklausel von 5 Prozent gescheitert.  Der Einzug in den Landtag des Saarlandes in der vorher am 27. März 2022 durchgeführten Landtagswahl stand bereits auf der Kippe, wenngleich die wahlrechtliche Hürde mit 5,7 Prozent der Stimmen noch überwunden werden konnte und dies eher überraschend. Verhängnisvoll hätte sich ein Scheitern im einwohnermäßig größten Bundesland Nordrhein-Westfalen (NRW) ausgewirkt, wo die Partei bei der Landtagswahl am 15. Mai 2022 mit 5,4 Prozent der Stimmen, anstelle der durchaus möglichen und auch vorausgesagten 7 bis 8 Prozent, ebenfalls beinahe an der Aussperrklausel des Wahlrechts gescheitert wäre. Ein Scheitern in NRW hätte wegen seiner quantitativen Auswirkung auf die gesamte Republik bereits das Ende auch dieses Parteiversuchs einleiten können. „Endet die Erfolgsgeschichte der AfD?“ ist eine berechtigte Frage und Aussagen, wonach das Wahlergebnis beweisen würde, daß die Partei „keine Eintagsfliege“ sei, haben fast schon den Charakter von Durchhalteparolen.

Diese Situation wirft, natürlich neben zahlreichen anderen Aspekten, die grundlegende Frage des bundesdeutschen Wahlrechts auf, die vor allem in der sog. „Sperrklausel“ besteht. Auch wenn dies formal-rechtlich bestritten wird, besteht ein komplexer politisch und entstehungsgeschichtlich zwingender Zusammenhang zwischen dieser wahlrechtlichen Klausel und der Zielsetzung, die durch den besonderen „Verfassungsschutz“ der bundesdeutschen Art erreicht werden soll, nämlich die Marginalisierung und Ausschaltung einer neuen Rechtspartei. Durch das Instrument „Verfassungsschutz“ wird die Sperrwirkung dieser Klausel, die für eine neue Partei ohnehin schon erheblich höher ist als die formal vielleicht sogar als gering erscheinenden 5% der Wähler, ins Unüberwindliche erhöht. Neben der Tatsache, daß Verfassungsschutzberichte dabei die Funktion einer Staatspropaganda zugunsten der etablierten Konkurrenzparteien annehmen, wird eine „beobachtete“ und „gelistete“ Partei aufgrund der einsetzenden Diskriminierungsmaßnahmen, insbesondere im öffentlichen Dienst, um aktive und qualifizierte Mitglieder gebracht, die man dem Wähler als Kandidaten bei Parlamentswahlen anbieten könnte. Damit wird die Freiheit einer Parlamentswahl entschieden beeinträchtig, selbst wenn die Wahl formal korrekt abläuft. Diese Beeinträchtigung der Freiheit der Wahl wird dabei geschickt in einer Weise verschleiert, daß es der etablierten Politik dann weitgehend geglaubt wird, wenn sie dann mit der Parole hausieren geht, „die Wähler“ hätten „demokratisch“ die „Extremisten“ abgewählt. Deshalb brauche man nicht zu garstigen Parteiverboten greifen, die – dies wird zumindest gespürt – zu einer liberalen Demokratie doch nicht so richtig passen, wenngleich natürlich die besondere Parteiverbotskonzeption erforderlich ist, um auch die Kombination von wahlrechtlicher Sperrklausel und Einsatz von „Verfassungsschutz“ effektiv zu machen.       

Auch historisch ist der Zusammenhang der bundesdeutschen Parteiverbotskonzeption, die aus dem alliierten Parteienlizenzierungssystem hervorgegangen ist, mit dem daraus abgeleiteten Parteiverbotssurrogat und der wahlrechtlichen Sperrklausel nachzuweisen. In der Tat hat die Aussperrklausel des Wahlrechts, wie die Entstehungsgeschichte und die verfassungsgerichtliche Argumentation zugunsten dieser Sperrklauseln belegen, sowie die enge Verknüpfung der besonderen bundesdeutschen Parteiverbotskonzeption mit der entsprechenden Wahlrechtsdiskussion bekräftigt, eine demokratiewidrige Verbotswirkung, indem das Wahlergebnis so gesteuert wird, daß es auf dasselbe hinausläuft wie beim Verbot von Parteien, die an der Klausel scheitern. Damit wollten die von den Alliierten lizenzierten Parteien aufgrund der alliierter Intervention bei der ursprünglichen deutsche Wahlrechtsgesetzgebung verhindern, daß mit der Aufhebung des demokratiewidrigen Systems der Parteienlizenzierung (Parteiverbot mit Erlaubnisvorbehalt) beim Übergang von einer unter Besatzungskontrolle stehenden und Demokratie eher imitierenden internationalen Selbstverwaltung zu dem Versprechen einer freien Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland (bei Abgrenzung von der linken „Volksdemokratie“) die von den Alliierten präventiv durch Nichtzulassung verbotene politische Rechte im weitesten Sinne Wahlen gewinnen könnte. Zu Recht hat Wenner in seiner maßgeblichen Abhandlung zum bundesdeutschen Wahlrecht den Duktus der Sperrklauseldebatte wie folgt kommentiert: „Die vier zugelassenen Parteien sind sich einig, daß sie allein legitimer Weise das politische Spektrum abdecken und Gründungen anderer Parteien weder vorgesehen noch erwünscht sind“ (Nachweis im Text). In der Geschichte der bundesdeutschen Wahlrechts war dabei immer abzusehen, gegen welche Parteien sich die Beschränkungen im Wahlrecht richten würden: Während die ursprünglichen Sperrklauseln, unter Einschluß der im Wahlrecht zum 1. Bundestag enthaltenen Klausel, den Zweck verfolgten, das von den Besatzungsmächten als demokratisch lizenzierte Parteiensystem vor der Konkurrenz durch neue Parteien zu schützen, richtete sich die Verschärfung der Sperrklausel im Wahlrecht zum 2. Bundestag gegen die sich nach der Aufhebung des Lizenzierungssystem und dessen Verbotswirkung abzeichnende Rückkehr zum Weimarer Parteiensystem und in Sonderheit gegen eine als Nachfolgepartei der NSDAP angesehene Partei, welche „man“ dann als Ersatz für die Verweigerung der zwischenzeitlich aufgehobenen Lizenzierung und der damit verbundenen Verbotswirkung verbieten zu müssen glaubte, nachdem  insoweit die Verschärfung des Wahlrechts nicht auszureichen schien, diese Partei „vom Wähler“ ausschalten zu lassen.

Da sich im Parlamentarischen Rat keine Mehrheit für eine Grundgesetzvorschrift ergeben hatte, die für die Einführung einer Sperrklausel als Abweichung von der Gleichheit des Wahlrechts als notwendig erachtet wurde, konnte eine derartige gegen die Wahlgleichheit verstoßende Aussperrklausel nur aufgrund Intervention der Besatzungsmächte auf Bundesebene durchgesetzt werden. Sie ist daher schon deshalb als verfassungswidrig zu kennzeichnen. Wie bei der zentralen (partei-) politischen Machtfrage des Parteiverbots kam auch bei der Entscheidung über die Sperrklauseln dem Bundesverfassungsgericht die Aufgabe zu, den auch von den Besatzungsmächten politisch gewünschten Schritt von der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze zur Gesetzmäßigkeit der Verfassung zu vollziehen. Diese Aufgabe hat das Gericht in zwei Schritten vollzogen. Nachdem zunächst die grundsätzliche Bedeutung der Wahlrechtsgleichheit für die „freiheitliche demokratische Grundordnung“ herausgearbeitet wird, kommen dann – wie beim Gebrauch des Begriffes „freiheitlich“ als durch die Idee der Freiheit gerechtfertigte Modifizierung und Einschränkung der Freiheit durch das Bundesverfassungsgericht anscheinend nicht anders erwartet werden kann – die Einschränkungen der Freiheit, die im wesentlichen mit der „Funktionsfähigkeit“ des zu wählenden Organs wenig überzeugend gerechtfertigt werden. Verfehlt ist natürlich – wie immer, wenn damit freiheitswidrige Entwicklungen in der BRD gerechtfertigt werden sollen – auch hier der Verweis auf die Weimarer Verhältnisse. Im internationalen Rechtsvergleich sind Sperrklauseln „keineswegs derart verbreitet, daß es gerechtfertigt wäre, sie zum wesentlichen Unterschied zwischen den Proporzsystemen zu erheben“ (Nachweis im Text), wenngleich das bundesdeutsche Wahlrecht nach dem Untergang des Kommunismus bei den neuen Demokratien in Osteuropa Vorbildcharakter einnahm. Wahlsysteme, die über derartige Regelungen einen nur unvollkommenen Proporz herbeiführen, sind dabei nur aufgrund einer detaillierten Analyse bewertend zu vergleichen, da die Sperrwirkungen – vergleichbar dem Weimarer Wahlrecht – auf komplexen Regelungsmechanismen beruhen. Die tatsächliche Sperrwirkung hängt außerdem davon ab, inwieweit die gesetzlichen Mechanismen auf ein bestehendes Mehrparteiensystem, das sich – anders als in der Bundesrepublik mit ihrer alliierten Vorgeschichte – frei gebildet hat, Rücksicht nehmen. In diesem Falle ist eine für Parteien spürbare Sperrwirkung eher akzidentiell zu erklären. Umgekehrt kann aber bei der Ausgestaltung des Wahlrechts bewußt auf bestimmte Parteien abgezielt worden sein. Nur im letzteren Fall liegt – wie in der Bundesrepublik Deutschland – eine politisch intendierte ideologie-politische Sperrwirkung mit Quasi-Verbotscharakter vor.

Es gäbe also für eine wirkliche politische Alternative schon im Eigeninteresse eine Menge an Programmen und Forderungen zu entwickeln, um die Demokratieverhältnisse in der BRD zu normalisieren. Was natürlich voraussetzt, dass man sich über die bundesdeutschen Verhältnisse keinen Illusionen macht. Im Zusammenhang mit der unvermeidbaren Änderung des Bundeswahlgesetzes (Verhinderung der massiven Aufblähung des Bundestages) würde sich anbieten, auch das Problem der Sperrklausel anzugehen.

Hinweis
Der anliegende Beitrag stellt eine notwendige Ergänzung zur jüngsten Veröffentlichung des Verfassers dar:

Josef Schüßlburner
Scheitert die AfD? Die Illusion der Freiheitlichkeit und die politische Alternative
Studie 39 des IfS, Verein für Staatspolitik e. V., 2020, Broschur, 239 Seiten, 7 Euro
Erhältlich beim Verlag Antaios

“Wahlrechtskritik 1.Teil: Wahlrecht mit Verbotswirkung: Die Aussperrklausel”

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