Teil 4: Weltkrieg als Weltrevolution – Vom sozialdemokratischen Marxismus zum Nationalsozialismus
Josef Schüßlburner
Wie kommt es, daß sich das, was aufgrund der in der Bundesrepublik Deutschland ersichtlich maßgebenden Erkenntnis des anerkannten sozialistischen Theoretikers Josef Stalin als „Faschismus“ bezeichnet wird, in Deutschland als „Nationalsozialismus“ zum Ausdruck gebracht hatte? Hat denn dieser Nationalsozialismus etwas mit Sozialismus zu tun, was sprachlich naheliegend ist? Antwort: Der Nationalsozialismus war im traditionellen Sozialismus des 19. Jahrhunderts schon immer präsent, hat sich aber als selbstständige Erscheinung, neben der Spaltung des klassischen Sozialismus in Sozialdemokratie und Kommunismus, im Zuge und als Folge des 1. Weltkriegs insbesondere bei den besiegten Staaten ergeben. Vereinfacht könnte man sagen, daß der Faschismus auf die spezielle Kriegspropaganda der Sozialdemokratie im Ersten Weltkrieg zurückgeht. Die deutsche Sozialdemokratie hatte durchaus ihre eigenen Kriegsziele oder zumindest Kriegsmotivationen, wenn man bedenkt, daß Marx und Engels den deutschen Revolutionskrieg gegen Rußland befürwortet hatten und dabei durchaus auch den deutschen Krieg gegen Frankreich, falls es sich im – machtpolitisch naheliegenden – Bündnis mit Rußland gegen Deutschland befinden sollte, wie sich dies für den Ersten Weltkrieg als wesentlich darstellen sollte.
Erklärungsbedürftig ist deshalb weniger die als „Verrat“ am sozialistischen Internationalismus angesehene Entscheidung vom 4. August 1914, im frei gewählten Deutschen Reichstag für die Kriegskredite des Deutschen Kaiserreichs zu stimmen, sondern angesichts des Marxismus als Parteiideologie der ostentative Pazifismus der Vorkriegs-Sozialdemokratie, welcher nicht wirklich zur marxistischen Parteiideologie paßt. Marx und Engels waren davon ausgegangen, daß der große europäische Krieg den Durchbruch zur Revolution darstellen würde. Deshalb kann nicht verkannt werden, daß durchaus die Erwartung bestand, daß der Krieg den Durchbruch zum Sozialismus und zur Demokratie bringen würde und deshalb eigentlich begrüßt werden mußte. Ob dies zur Zustimmung zur Kriegsfinanzierung motiviert hat, ist schwer zu entscheiden. Zumindest ist dem Ersten Weltkrieg ein starkes demokratisches Element zuzuschreiben.
Ersichtlich ahnt die sozialismusaffine bundesdeutsche Ideologiepolitik Gefahren, womit es wohl zu erklären ist, daß bei den zahlreichen Veröffentlichungen, Ausstellungen, Filmen und Gedenkveranstaltungen zum Ersten Weltkrieg vor einem Jahrhundert die parlamentarische Zustimmung, insbesondere der Sozialdemokratie vom 4. August 1914 zur Kriegsfinanzierung und damit die demokratische Billigung des deutschen Kriegseintritts kaum eine Rolle spielt. Dies ist deshalb befremdlich, weil die Bedeutung dieses Ereignisses für die Entwicklung des 20. Jahrhunderts kaum überschätzt werden kann. Deutlich wird dabei auch, wie die bundesdeutsche Geschichtspolitik die spezifisch demokratischen und sozialistischen Aspekte des Weltkriegs ausblendet (was „man“ macht, um den als rechts identifizierten „Obrigkeitsstaat“ besser diffamieren zu können). Mit dem Ersten Weltkrieg hat die deutsche Sozialdemokratie ihre bis heute noch maßgebliche Form erhalten. Der 4. August 1914 markiert nämlich durch Übernahme von gesamtstaatlicher Verantwortung den Beginn der SPD als deutsche Regierungspartei. Dieses Datum markiert aber mit der innerparteilichen Auseinandersetzung über die Bewilligung der Kriegskredite den Ausgangspunkt der Spaltung der Sozialdemokratie, welche zu dem unbestreitbar aus der SPD der Vorkriegszeit hervorgegangenen Kommunismus führen sollte. Dieser sollte sich anschließend als das größte politische Unheil des 20. Jahrhunderts herausstellen. Deshalb kann der Erste Weltkrieg in der Tat als die Urkatastrophe nicht nur Europas, sondern der gesamten Welt eingestuft werden, was den Zweiten Weltkrieg eher zum Anhängsel im Rahmen eines insgesamt dreißigjährigen Krieg (1914 bis 1945) gerinnen läßt.
Die Verdrängung des 4. August 1914 dürfte mit der erfolgreichen Selbstimmunisierung der deutschen Sozialdemokratie gegenüber der amtlichen Bewältigung als sozialismusaffiner Staatsideologie der Bundesrepublik Deutschland zu tun haben, die bekanntlich um „deutsche Schuld“ kreist und dies mit Unterwerfungsbereitschaft gegenüber den als moralisch höher stehend eingestuften Siegermächten bekundet: Wenn es nämlich „deutsche Schuld“ am Ersten Weltkrieg gibt, dann kann die Sozialdemokratie davon nicht ausgenommen werden.
Und in der Tat: Die Art und Weise, wie von Seiten der Sozialdemokratie dann der Krieg begründet oder gerechtfertigt wurde, nämlich als internationaler Klassenkampf gegen das kapitalistische England hat sich dann als eine wesentliche Voraussetzung zur Bildung einer faschistischen / nationalsozialistischen Ideologie herausgestellt. Um die internationale Kriegskonstellation in das marxistische Schema des Klassenkampfes zu bringen, wurde die Arbeiterklasse schrittweise durch die – fortschrittliche, besonders sozialismusfähige – Nation als Agens des sozialistischen Fortschritts ersetzt. Die proletarische deutsche Nation führte danach dann einen Weltrevolutionskrieg gegen das Zentrum des Kapitalismus, nämlich Großbritannien. Da der Klassenkampf doch auf die Abschaffung der Klassengesellschaft gerichtet war, d.h. es sollte nach Überwindung der Klassen keine neue Klassengesellschaft entstehen, konnte das sozialistische Klassenbewußtsein des Arbeiters zur Vorform des wirklichen Nationalbewußtseins erklärt werden. Dieser Arbeiternationalismus wurde dann zur Manifestation des sozialistischen Bewußtseins. Zudem erhielt der Weltkrieg eine besondere ideologische Bedeutung durch die Konzeption des „Kriegssozialismus“. Damit konnte eine zentrale Lücke des Marxschen Systems ausgefüllt werden, das kaum brauchbare Aussagen über die künftige sozialistische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung enthielt. Die diktatorische Wirtschaftsregulierung, die sich aufgrund der Kriegsnotwendigkeiten ergab, wurde damit zum Sozialismusmodell erklärt und der Krieg damit hoch ideologisiert.
In den nachfolgenden Ausführungen wird dementsprechend der Schwerpunkt auf diesen zentralen Bewältigungsaspekt gelegt, nämlich die Entstehung von Faschismus und Nationalsozialismus aus dem „Augusterlebnis“, welches Nationalismus und Sozialismus wieder zusammenführen sollte. Diese Elemente hatten beim SPD-Gründers Lassalle noch eine Einheit gebildet und sind trotz antinationalistischer Sentenzen im „Kommunistischen Manifest“ selbst bei Marx und Engels nachweisbar, sie waren jedoch zwischenzeitlich aufgrund der nationalstaatlichen Reichsgründung unter ideologisch rechter Dominanz tendenziell zu Gegensätzen geraten (Sozialdemokraten als „vaterlandslose Gesellen“). Von den innerparteilichen Widersachern der Zustimmung zum deutschen Verteidigungskrieg und zum „Burgfrieden“ in Deutschland, aus denen die USPD und (über Abspaltungen und Wiedervereinigungen) letztlich die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) hervorgehen sollte, wurde die Mehrheitssozialdemokratie mit dem Begriff „Nationalsozialisten“ überzogen, ein Begriff, den schon Eugen Dühring, der vorübergehend die Chance gehabt zu haben schien, zum maßgeblichen Chefideologen der SPD aufzusteigen, zur Beschreibung der Positionen von Ferdinand Lassalle gebraucht hatte. Dieser polemisch gemeinte Begriff wurde dann zur Selbstbezeichnung einer politischen Richtung, welche zentrale Elemente der aus der SPD stammenden Kriegsbegründung, die vor allem den Schriften des ursprünglich linksextremen SPD-Reichtagsabgeordneten Paul Lensch entnommen werden können, zu einem eigenständigen ideologischen Komplex zusammenführen sollte. Zu diesem Komplex gehörte dann auch die vor allem vom Doktorvater des zu Beginn der Bundesrepublik Deutschland maßgeblichen SPD-Politikers Kurt Schumacher, nämlich Professor Plenge, propagierte Konzeption der diktatorisch verwalteten Kriegswirtschaft als Sozialismusmodell.
Der Beitrag geht schließlich auf die Frage ein, ob der Nationalsozialismus als selbständige Entwicklung hätte verhindert werden können, wenn die Sozialdemokratie ihre nationale Ausrichtung konsequent beibehalten hätte, was sie aber im Interesse der Integration in die Sozialistische Internationale durch frühzeitige Zugeständnisse der deutschen Kriegsverantwortlichkeit („Kriegsschuld“) nicht getan hatte. Die Situation Deutschland unter dem Versailler Friedensdiktat hat deshalb einem verselbständigten Nationalsozialismus eine große Chance gegeben, vergleichbar der Chance für den zeitgenössischen sozialistischen Befreiungsnationalismus in den Gebieten der später sogenannten Dritten Welt.
Hinweis:
Der vorliegende Beitragstellt eine Ergänzung zum Werk des Verfassers dar:
Josef Schüßlburner
Roter, Brauner und Grüner Sozialismus. Bewältigung ideologischer Übergänge von SPD bis NSDAP und darüber hinaus,
2008, Lichtschlag Medien und Werbung KG, 24,80 Euro
ISBN-10: 3939562254, ISBN-13: 978-3939562252
Dieses Buch ist im März 2015 in unveränderter 3. Auflage wieder erschienen und nunmehr auch in einer Kindle-Edition für 6,99 Euro erhältlich. Erhältlich auch hier