Mein 1945 – Teil 3

  1. Zwischen Neubeginn und Restauration – Meine Erlebnisse vom Oktober bis Dezember 1945

Hans-Helmuth Knütter

Die Besonderheit seines Berichts sieht der Verfasser darin: Normalität im Unnormalen, Ruhe im Sturm. Das findet man in den meisten dramatischen Berichten nicht. Denn im Vergleich zu vielen körperlich und seelisch Versehrten, Vertriebenen, überlebenden Angehörigen toter oder verschollener Familienmitglieder ging es ihm und seiner Familie noch ganz erträglich. Gerade das macht das Besondere seines Berichtes aus. Im ersten Jahresdrittel der Zusammenbruch des nationalsozialistischen Systems, näherrückender Krieg, Katastrophen. Eine alte Welt brach zusammen. Dann die Monate der Okkupation. Keine Befreiung, keine Erleichterung, im Gegenteil: Eine Übergangszeit, in der neue, bessere Verhältnisse erhofft, aber schlimmere, von unkontrollierbarer Willkür gesteuerte Wandlungen befürchtet und erlebt wurden. Schließlich, ab Herbst die allmähliche Beruhigung. Das Gefühl „Wir sind davongekommen, wieder mal“. Aber die Zukunft blieb düster. Finis Germaniae?

Die Sowjets übten eine auf Furcht beruhende Herrschaft aus. Viele Einwohner – keineswegs nur belastete Nationalsozialisten – wurden „abgeholt“ und verschwanden. Meistens, ohne daß ihr Verbleib und der Grund ihrer Verhaftung bekannt wurden. Dadurch entstand eine Atmosphäre unheimlicher Unsicherheit: Man konnte vor dem Zugriff der „Abholer“ nie sicher sein. Die Absicht war leicht zu durchschauen: Herrschaftssicherung durch Furcht. Als dann im Juni 1945 „antifaschistische Parteien“ von den Sowjets lizenziert wurden, waren die Besatzer zunächst gegen eine Einheitspartei. Erst als sie bemerkten, daß die KPD schwächer als die SPD sein würde, schalteten sie um. Es ist dabei eine SPD-Geschichtsklitterung zu behaupten, die SED-Gründung sei das Ergebnis einer Zwangsvereinigung. Die Mehrheit der Sozialdemokraten war für die Einheitspartei. Den Zwang hat es gegeben, er wurde aber – von einigen frühen Anfängen abgesehen – erheblich später ausgeübt, nämlich erst 1951. Damals wurde die SED zur „Partei neuen Typus“ erklärt, d. h. sie wurde zur leninistischen Kaderpartei umgewandelt. Man tauschte die „Parteidokumente“, also die Mitgliedsbücher, um, und wer diesen Weg nicht mitging, flog raus unter ihnen der Großvater des Verfassers. Die Zwangsvereinigung hat damals stattgefunden, nicht 1946. Dem Großvater ging es nicht um kommunistischen Totalitarismus, sondern um Aufbau und ein besseres Deutschland. Er wollte nicht die SPD den Kommunisten ausliefern, sondern er glaubte ehrlich an eine bessere, freiheitliche Partei. Bezeichnend, daß ihm nie der Gedanke an die stalinistischen Gräuel kam. Vielleicht hätte er sie als NS-Propaganda abgetan. Sein Verhalten mag als Beispiel dafür gelten, daß die Zeitgenossen glauben und sehen, was sie glauben und sehen wollen. Alles Entgegenstehende wird verdrängt. Dann: Unter dem Tarnnamen „Antifaschismus“ (statt „Sozialismus“) vollzog sich die ökonomische und damit politische Entmachtung des Bürgertums. Enteignet wurden – so die Begründung – nicht die Bourgeois, sondern die „Faschisten, Militaristen und Junker“.

Ein eindeutiges Fazit zu ziehen ist angesichts der Vielschichtigkeit der Ereignisse kaum möglich. Zweifellos handelt es sich um ein Epochenjahr, aber doch nicht für die gesamte Menschheit, sondern für die Kriegsbeteiligten. Dessen muß man sich bewußt sein, wenn hier die Deutschen im Mittelpunkt stehen. Was sie erlebten, gilt nicht für alle anderen. Für die Deutschen bedeutete 1945 den Absturz von einer Großmacht zu einem von den Feindmächten beherrschten Protektorat. Aber auch die sogenannten „Siegermächte“ erlitten einen Niedergang. Frankreich, ein „Sieger“, der auf der Bahre zum Siege getragen werden mußte. Großbritannien, als erstrangige Weltmacht in den Krieg eingetreten, als drittrangige Mittelmacht wieder rausgekommen. Nicht nur Deutschland, auch Europa war geschwächt.

Das Jahr 1945 hatte mit dem Verzweiflungskampf auf deutschem Boden begonnen, es endete auf den Trümmern der Niederlage. Alles war offen, nichts war klar. Alle Gefühle, Verzweiflung, Behagen der Nutznießer, individualanarchistischer Zynismus standen neben- und gegeneinander. Ein Mentalitätswandel, der erst in den kommenden Jahren und Jahrzehnten deutlich hervortreten sollte, hat in den fünfundvierziger Erfahrungen seinen Ursprung. Auch hier kann man Bertolt Brecht, „Der gute Mensch von Sezuan“ zitieren: „Der Vorhang fällt und alle Fragen bleiben offen.“

„Hans-Helmuth Knütter: Mein 1945 – Teil 3“

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