2. Vom Beginn der Besatzung und den neuen Verhältnissen – Meine Erlebnisse vom Mai bis September 1945
Hans-Helmuth Knütter
Zu den Erlebnisse, die den Verfasser geprägt haben, gehört neben dem Bombenterror-Angriff auf Stralsund am 6. Oktober 1944, der Flucht aus der Heimat, der DDR, damals noch allgemein „Sowjetzone“ genannt, am 12. Oktober 1950, der Wiedervereinigung 1989/90 vor allem die Okkupation durch die Sowjet-Russen, die für ihn mit der Besetzung Grimmens am 30. April 1945 stattfand. Dieses Ereignis wird hier als das Erlebnis eines damals Zehnjährigen unter Berücksichtigung des kindlichen Fassungsvermögens wiedergegeben.
Wartete man auf Befreiung? „Widerlicher Unsinn. Niemand hatte in dieser Lage der Bedrohung ein Gefühl der Befreiung, wie es Jahrzehnte später die Bewältigungspropaganda behauptete. Politische Häftlinge, die eine Befreiung aus der Haft erhoffen konnten, gab es in Grimmen nicht. Am ehesten ist die Gefühlslage mit einem Albtraum zu erklären. Aber dieser Alb war kein Traum. So mag es auch bei den alliierten Bombenterror-Angriffen gewesen sein, als man im Luftschutzkeller saß, angstvoll auf die nächste Welle lauschte und auf Verschonung hoffte, aber hilflos der Bedrohung ausgesetzt war. Die Stimmung unmittelbar vor dem Einmarsch des Feindes war eine Mischung aus angstvoller Erwartung und Hoffnung, es möge gut ausgehen, gut für Leben, Gesundheit und Besitz.“
Der erste Kontakt mit den später so genannten „Befreiern“ war: Die Russen „waren friedlich, nicht grob, aber die „Befreiung“ bezog sich nur auf unser Eigentum, von dem wir „befreit“ wurden. Im Laufe dieses Nachmittags, eines schönen Frühlingstages, sonnig, wie fast das ganze Jahr 1945, aber politisch schwarz und finster, kamen mindestens noch einmal Russen, um uns von Silberbesteck zu „befreien“. Aber sonst geschah nichts.“ Bald gab es die Parole: „Es ist 1. Mai. Die weißen Fahnen rein und rote raus!“ „Mit deutscher Beflissenheit tauchten schnell an allen Häusern die roten Tücher auf. Auch bei uns wurde aus einem roten Vorhang das neue Symbol des Gehorsams über den Zaun gehängt.“ „Es gab viele gesinnungstüchtige Anpasser an die neuen Verhältnisse. Deren Benehmen war in psychologischer und charakterologischer Hinsicht das Gegenteil derjenigen, die sich den neuen Verhältnissen durch Freitod verweigerten.“ „Die Russen hielten sich zurück, und sog. „Antifaschisten“ übernahmen mit russischer Unterstützung und Überwachung die Umgestaltung der Verhältnisse. Dabei ging es erst einmal um die notdürftigste Versorgung der Bevölkerung. Von der Neugründung „antifaschistischer“ Parteien haben wir nichts bemerkt, obwohl mein Großvater als überzeugter und im Rahmen des Möglichen offener NS-Gegner und als alter Sozialdemokrat sicher angesprochen und zur Mitwirkung aufgefordert wurde. Aber davon weiß ich nichts.“ „Zu den negativen Ereignissen jener Sommermonate gehört, daß ehemalige NSDAP-Mitglieder „abgeholt“ wurden und – wie man hörte – nach Neubrandenburg gebracht wurden. So auch ein Nachbar, Herr Wolf, Finanzbeamter und kleines NS-Mitglied. Die Verhaftungen muteten recht willkürlich an, weil keineswegs alle ehemaligen „Nazis“ „abgeholt“ wurden. Hier waren offenbar deutsche Denunzianten am Werke, die den Sowjets zuarbeiteten, aber dabei vermutlich auch persönliche Rechnungen beglichen.“
Eine vorläufige Schlußbemerkung: Wer diesen Bericht liest, fragt vielleicht „Na und?“ Was soll das? Es ist doch gar nichts passiert. Ja, eben deshalb soll über die Zeit der Okkupation berichtet werden, die sonst immer mit dramatischen, schrecklichen Ereignissen spannend gemacht wird. Gar nichts passiert? Wer das sagt, hat kein Gespür für die weltpolitischen und weltanschaulichen Umbrüche. Kriegsende, Zusammenbruch aller bisherigen Werte und Strukturen, Besetzung, Bedrohung durch die Okkupanten. Das alles wurde mit den Augen und der Verständnisfähigkeit eines damals Zehnjährigen gesehen. Viel später hörte ich ein Theodor Adorno zugeschriebenes Zitat, das sinngemäß lautet, im falschen Leben könne es kein wahres geben. Widerspruch, großer Meister! In einer von globalen Katastrophen, Unglück, Not und Tod geprägten Welt kann es durchaus relativ ruhige, überwiegend geordnete Nischen geben. Nicht völlig unberührt von den globalen Wirren, aber doch nur am Rande betroffen. Das wird hier gezeigt und mit wirklichkeitsgetreuer Schilderung bewiesen.