1. Zusammenbruch und Kriegsende – Meine Erlebnisse vom Januar bis April 1945
Hans-Helmuth Knütter
Nach der bundesdeutschen Staatsideologie soll man den 8. Mai 1945 als „Tag der Befreiung“ begehen. Seit Integration der DDR-Parteien ist aus dem „soll“ fast schon ein „muß“ geworden, welches bei Zuwiderhandeln zumindest mit Vorwürfen von „Rechtsextremismus“ überzogen wird. Dann gebietet der aus dem Vokabular des Staatsschutzes, des sog. „Verfassungsschutzes“ stammende Begriff, daß man auch den Einmarsch der Roten Armee, des bewaffneten Organs des Gulag-Systems, als „Befreiung“ anzusehen hat, weil man widrigenfalls irgendwie im Sinne eines Verdachtsverdachts als „Verfassungsfeind“ ausgemacht wird.
Hier ist dann aber in der Tat „Relativierung“ angesagt: Eine derartige alternative Perspektive soll eine dreiteilige Darlegung geben, die auf Erinnerungen beruht, die durch schriftliche Äußerungen, insbesondere Tagebuchaufzeichnungen und Unterhaltungen mit Zeitzeugen abgestützt sind. Ort der Handlungen ist die Gegend um Stralsund, also das Gebiet, das von der Roten Armee besetzt werden sollte und dann zur Sowjetischen Besatzungszone gehörte, aus der dann bekanntlich die „Deutsche Demokratische Republik“, die sogenannten „DDR“ hervorgehen sollte.
Der Wandel der Welt, der Zusammenbruch des Alten und das Entstehen des Neuen – gar eine „Befreiung“ – das haben die Zeitgenossen dabei nicht so empfunden. Niemand – außer Häftlingen des NS-Systems – hat sich 1945 beim Ansturm der Feinde „befreit“ gefühlt. Diesen Eindruck konnte man erst Jahrzehnte später gewinnen, etwa 1985, als Richard von Weizsäcker seine Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes in Europa hielt. Von den Feinden wurde 1945 nichts Gutes erwartet. Selbstlose Befreier, Helfer gar – von wegen! Rache, Plünderung, Vergewaltigung, Verschleppung, Mord und Totschlag – das wurde befürchtet. Jahre und Jahrzehnte später, als sich die Erkenntnis durchgesetzt hatte „wir sind noch einmal davongekommen“, mit Blessuren zwar, aber auch mit Erneuerungen und neuem Wohlstand, da erst konnte der Gedanke, von Kriegszwängen und Diktatur befreit zu sein, Anklang finden.
Der vorliegend online gestellte 1. Teil behandelt den Zeitraum vor Beginn der sowjetischen Besatzung, also vor der sogenannten „Befreiung“ im Sinne der DDR- und nunmehr BRD-Staatsideologie.
Dabei geht es vor allem darum: Auch 1945, im Chaos des Um- und Zusammenbruchs, gab es einen Alltag. Es ging ziemlich normal zu, Banalität im Drama. Gerade diese Dokumentation einer Normalität in einer abnormen politischen Großwetterlage rechtfertigt diese Darstellung. Infolge des amerikanischen Terror-Angriffs war nicht nur das Haus mit allen vertrauten Sachen vernichtet, auch das Gefühl, während des Bombenwurfs völlig hilflos in Lebensgefahr zu sein – das formt das Bewußtsein auch eines damals Zehnjährigen. Krieg und Kriegswirkungen – das war jetzt unmittelbare Gegenwart. Das Näherrücken der Front, die sich abzeichnende Niederlage, war jetzt hautnah als persönliche Bedrohung spürbar. Bis dahin war die Familie ja ziemlich unbeschadet durch den Krieg gekommen. Sicher, im November 1943 kam die Nachricht vom Soldatentod eines Onkels, der an der Ostfront fiel. Auch das trug dazu bei, daß der Krieg jetzt hautnah spürbar wurde. Dies also war die Stimmung um die Jahreswende 1944/45. Mit dem Zusammenbruch endeten nicht nur die Strukturen des alten Systems, sondern auch seine Werte und Konventionen wie Gehorsam, deutschnationale Traditionen, Härte, Askese. Die Mentalität der folgenden Jahrzehnte wurde damals durch die Enttäuschungen und Erfahrungen begründet. Jetzt setzte sich der Grundsatz durch „Rette sich, wer kann“. Bisher gültige Regeln wie „Du bist nichts, Dein Volk ist alles“ erwiesen sich, wie manches bisherige Ideal, als hohle Phrase. Die individualistische, eigensüchtige Einstellung der Nachkriegszeit wurde hier und jetzt gelegt, durch diese Erlebnisse, durch Enttäuschungen über nicht eingehaltene NS-Versprechen. „Wir geben alles – Leben, Eigentum – für Führer, Volk und Vaterland!“ Von wegen! Der Führer ist zum Teufel gefahren, das Volk zersplittert, verwirrt, in hilflose Individuen aufgelöst, das Vaterland von Feinden unterworfen. Da sieh zu, wo Du selbst bleibst, Du und Deine nächsten Angehörigen.