1990
Linksextremismus/-terrorismus
Die Zahl der 1990 erfaßten politisch motivierten Brand- und Sprengstoffanschläge ist – wie auch schon im Vorjahr – weiterhin zurückgegangen. 1990 wurden 58 Brand- und Sprengstoffanschläge mit linksextremistisch motiviertem Hintergrund verübt. Dies sind zehn Anschläge weniger als im Vorjahr. Themenschwerpunkt des linksextremistischen Spektrums war die „Solidarität mit dem Hungerstreik der GRAPO-PCE(r) in Spanien“. Zwölf Brand- und fünf Sprengstoffanschläge stehen damit im Zusammenhang. Ein weiterer Hintergrund für Anschläge war die „Wiedervereinigung“ am 3. Oktober 1990. Vorwiegend Banken und Parteigeschäftsstellen waren Ziele bei insgesamt 16 Anschlägen mit dieser Motivation.
Anhang zu JW-Informationsdienst Nr. 335, 30. 7. 1991
1990
Revolutionäre Zellen (RZ)/Rote Zora (Frauenorganisation)
Die RZ treten 1990 mit 5 Anschlägen in Erscheinung.
Verfassungsschutzbericht 1990
Februar 1990
Aufhebung der Urteile gegen „radikal“-Herausgeber
Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofes (BGH) hebt das Urteil des Berliner Kammergerichts gegen die Journalisten Benny Härlin und Michael Klöckner auf. Begründung: Der Vorwurf, die Redakteure hätten mit dem Abdruck unkommentierter Verlautbarungen im Szene-Blatt „radikal“ die „Revolutionären Zellen“ (RZ) unterstützt, beruhe „auf einer unvollständigen Beweiswürdigung“. Härlin und Klöckner waren im Frühjahr 1984 zu je zweieinhalb Jahren Haft verurteilt worden. Mit seiner Entscheidung wendet sich der 3. Strafsenat des BGH auch gegen die Praxis vieler Strafverfolger, die die Vorschriften des Paragraphen 129a StGB, der die „Unterstützung einer terroristischen Vereinigung“ unter Strafe stellt, ausweiten (siehe auch 13. 6. 1983, 5. 3. 1984).
Der Spiegel, 21/1990, S. 73
4. Februar 1990
Anschlag auf die Hauptverwaltung der RWE in Essen
Vor der Hauptverwaltung der Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerke (RWE) in der Essener Innenstadt explodiert eine Bombe der „Kämpfenden Einheit Cepa Gallende“. Drei Menschen werden verletzt, es entsteht hoher Sachschaden.
Der Spiegel, 11/1990, S. 114
25. Februar 1990
Versuchter Anschlag auf ein Verwaltungsgebäude der Deutschen Bank
Vor einem Verwaltungsgebäude der Deutschen Bank in Eschborn entdecken Polizeibeamte sechs Bomben in einem VW Golf. Die Sprengsätze explodierten nicht, weil der Zünder versagte.
Der Spiegel, 11/1990, S. 114
27. Februar 1990
Anschlag auf Siemens-Schule in Bonn
Mitglieder einer „Kämpfenden Einheit Hüseyin Hüsnü Eroglu“ werfen einen Brandsatz in die Siemens-Schule für Kommunikations- und Datentechnik in Bonn. Ein Schulungsraum brennt aus.
Der Spiegel, 11/1990, S. 114
März 1990
„Illegales Info-System“ der RAF-Gefangenen
Der Generalbundesanwalt Rebmann leitet „gegen 25 inhaftierte terroristische Gewalttäter und weitere noch unbekannte Personen“ ein Ermittlungsverfahren „wegen des Verdachts des Aufbaus und der Unterhaltung eines illegalen Informationssystems“ ein, nachdem die Durchsuchung zahlreicher Zellen entsprechende Dokumente zutage förderte. Bei Zellendurchsuchungen beschlagnahmen die Ermittler weiteres „umfangreiches, zum Teil chiffriertes Schriftgut“, das diesen Verdacht bestätigt. Die Bundesanwaltschaft erhält dadurch Beweise, daß sich die Häftlinge untereinander durch ein ausgeklügeltes Info-System verständigen und zwischen ihnen, der Kommandoebene und dem Umfeld der „Roten-Armee-Fraktion“ (RAF) ein „ständiger Dialog“ stattfindet. Ein Kassiber, den die Terroristin Eva Haule-Frimpong an ihren inhaftierten RAF-Genossen Helmut Pohl richtet, gilt den Ermittlern als schlüssiger Beweis dafür, daß es enge Verbindungen und Einflußnahmen zwischen Gefangenen und der RAF-Kommandoebene gibt. Ein anderer Kassiber belegt nach Ansicht von Sicherheitsexperten, daß die einsitzenden Terroristen mittlerweile aus den Gefängnissen heraus die Führung der bombenden und schießenden Komplizen übernommen haben. Die Auswertung der Schriftstücke zeigt außerdem die Kräfteverhältnisse: „Drinnen sitzen die geistigen Köpfe“, urteilt ein Terrorexperte, und „draußen die Handwerker.“ Mehrere Verteidiger inhaftierter Mitglieder der RAF sollen zudem Teil dieses illegalen Informationsnetzes zwischen den Gefangenen und der weiterhin gesuchten Kommandoebene der RAF sein. Namentlich erwähnt wird dabei der Düsseldorfer Rechtsanwalt Johannes Pausch, der 1989 an den Verhandlungen über eine Zusammenlegung der RAF-Inhaftierten beteiligt war. „Belegt ist“, so der nordrhein-westfälische Justizminister Rolf Krumsiek (SPD), „daß verschiedene Verteidiger, darunter Rechtsanwalt Pausch, in das Kommunikationssystem eingebunden sind.“
Der Spiegel, 31/1990, S. 61; 25/1991, S. 30 ff.; 24/1991, S. 16; 22/1991, S. 112 ff.
2. März 1990
Geplanter Anschlag auf Ignaz Kiechle
Auf den Bundeslandwirtschaftsminister Ignaz Kiechle (60) sollte offenbar ein Anschlag verübt werden – zum ersten Mal wäre ein Bundesminister das Opfer gewesen. In einem Bekennerschreiben, das Experten des Bundeskriminalamts (BKA) als „authentisch“ einstufen, bezichtigt sich ein „Kommando Juliane Plambeck“, Kiechle „angegriffen“ zu haben. Ein weiterer Brief, datiert vom 3. 3., kündet vom Scheitern des Mordplanes: Das Ziel des Angriffs sei „nicht erreicht“, die Aktion „abgebrochen“ worden. Ein Attentat auf Kiechle hätte sich, so Staatssekretär Hans Neusel vom Bundesinnenministerium, nahtlos in „eine ganze Kette von Anschlägen“ eingereiht. Seit Ende November vorigen Jahres wird die Bundesrepublik von einer Welle terroristischer Gewalt erschüttert.
Der Spiegel, 11/1990, S. 111; vgl. auch 20/1990, S. 16
21./22. April 1990
Krawalle in Berlin
Ca. 300 Jugendliche (Türken und „Autonome“) plündern Geschäfte und liefern sich Straßenschlachten mit der Polizei. Für den 1. Mai kündigten die Linksradikalen einen „Bürgerkrieg“ in Berlin an.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23. 4. 1990
Mai 1990
Aufhebung des Urteils gegen Ingrid Strobl
Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofes (BGH) hebt das Urteil gegen die feministische Schriftstellerin Ingrid Strobl (38) in entscheidenden Punkten auf. Das Oberlandesgericht Düsseldorf hatte die ehemalige „Emma“-Redakteurin wegen der „Unterstützung einer terroristischen Vereinigung“ zu fünf Jahren Haft verurteilt. Wichtigstes Beweismittel der Anklage im Düsseldorfer Prozeß war ein Wecker, den die „Revolutionären Zellen“ (RZ) häufig als Zeitverzögerer in den selbstgebastelten Bomben verwenden. Strobl hatte einen solchen Wecker sechs Wochen vor dem Anschlag der RZ auf das Verwaltungsgebäude der Lufthansa in Köln 1986 gekauft. Auch die BGH-Richter haben Strobl in dem schwerwiegenden Verdacht, sie habe, als sie den Wecker kaufte, „einen linksextremistisch oder radikalfeministisch motivierten Bombenanschlag auf Gegenstände politischer Gegner unterstützen wollen“. Doch daraus folge nicht, daß sie sich den Terror-Trupps der „Revolutionären Zellen“ angeschlossen habe, mögen die auch ähnliche Ziele wie Strobl verfolgt haben.
Der Spiegel, 21/1990, S. 68 ff.
1. Mai 1990
Gewaltsame Ausschreitungen in Berlin
Bei gewaltsamen Ausschreitungen von Linksextremisten am 1. Mai wird die Parole „Nie wieder Hauptstadt“ verbreitet.
Die Welt, Bonn, 15. 6. 1991
12. Mai 1990
Demonstration der extremen Linken in Frankfurt
Rund 7.000 Teilnehmer (darunter 1.000 Gewaltbereite) folgen dem Aufruf von über 100 Organisationen und 700 Einzelpersonen (unter anderem Teile der Grünen und der DKP, weitere kommunistische Gruppierungen sowie gewaltbereite „Autonome“, „Anarchisten“ und „Antiimperialisten“) zu der „Demonstration gegen deutschen Nationalismus, gegen die Kolonisierung des Ostens und die Annexion der DDR“. Nach der Demonstration ziehen rund 150 Vermummte durch die Frankfurter Innenstadt und liefern der Polizei eine Steinschlacht.
Bonner Rundschau, 26. 6. 1990
Juni 1990
Festnahme von Susanne Albrecht
Susanne Albrecht (39), nach der wegen Mittäterschaft an der Ermordung des Frankfurter Bankiers Jürgen Ponto 1977 gefahndet wurde, wird in Ost-Berlin festgenommen. Damit beginnt eine ganze Serie von Verhaftungen, die offenbart, in welchem Ausmaß die DDR die Terroristen der „Roten-Armee-Fraktion“ (RAF) unterstützte, auf deren Ergreifung in der Bundesrepublik hohe Belohnungen ausgesetzt waren. In der folgenden Woche werden noch fünf weitere mutmaßliche oder Exterroristen in der DDR festgenommen: Werner Lotze (38), der 1978 an der Erschießung eines Polizisten bei Dortmund beteiligt gewesen sein soll und der mit der Ermordung des Rüstungsmanagers Ernst Zimmermann (1985) und des Diplomaten Gerold von Braunmühl (1986) in Zusammenhang gebracht wird; Christine Dümlein (41), Lotzes Lebensgefährtin, die wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung gesucht wurde; Monika Helbing (36), die 1977 in den Untergrund ging und in Verbindung mit der Ermordung des Generalbundesanwalts Siegfried Buback und seines Fahrers Wolfgang Goebel (1977) sowie des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer gesucht wird; Ekkehard Freiherr von Seckendorff-Gudent (49), verheiratet mit Monika Helbing, der schon 1974 wegen Unterstützung einer kriminellen Vereinigung zu einem Jahr Freiheitsstrafe verurteilt wurde und mit dem Schleyer-Mord in Zusammenhang gebracht wird; Inge Viett (46), in der Szene als „RAF-Oma“ bekannt und wegen mutmaßlicher Beteiligung an der Ermordung des Berliner Kammergerichtspräsidenten Günther von Drenkmann 1974 sowie der Entführung des damaligen Berliner CDU-Vorsitzenden Peter Lorenz 1975 zur Fahndung ausgeschrieben.
Der Spiegel, 25/1990, S. 98
15. Juni 1990
Festnahme von Sigrid Sternebeck
Die mutmaßliche RAF-Terroristin Sigrid Sternebeck (40) wird in Schwedt an der Oder festgenommen. Sie wurde u. a. gesucht wegen der Beteiligung an der Ermordung von Generalbundesanwalts Siegfried Buback und seinen zwei Begleitern am 7. 4. 1977 in Karlsruhe, der Ermordung des Dresdner-Bank-Chefs Jürgen Ponto am 30. 7. 1977 in Oberursel bei Frankfurt, des versuchten Raketenwerfer-Attentats auf die Bundesanwaltschaft am 25. 8. 1977 in Karlsruhe sowie der Entführung und Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer und der Ermordung seiner vier Bewacher im September und Oktober 1977. Nach dem Fall der Mauer sind mit Sigrid Sternebeck mittlerweile neun Terroristen der RAF in der DDR aufgespürt worden. Sechs von ihnen sind jetzt in der Bundesrepublik inhaftiert, drei werden wegen Verjährung der Tatvorwürfe auf freien Fuß gesetzt. Während neben Sigrid Sternebeck auch Monika Helbing und Inge Viett bislang zu den Vorwürfen schweigen, haben Susanne Albrecht, Silke Maier-Witt, Werner Lotze und Henning Beer zum Teil umfangreiche Geständnisse abgelegt und auch andere schwer belastet.
Der Spiegel, 33/1990, S. 56 f.; 34/1990, S. 62 f.
19. Juli 1990
Erklärung des Bundesinnenministers Schäuble zum Verfassungsschutzbericht 1989
Die Zahl der Linksextremisten betrug 1989 41.000. Entsprechend beeinflußte Organisationen haben 40.000 Mitglieder. Die DKP hat noch 15.000 aktive Mitglieder. Es sind derzeit 187 linksextremistische oder entsprechend beeinflußte Organisationen bekannt. 4.500 Menschen sind den Anarchisten, Autonomen, „Sozialrevolutionären“ u. ä. zuzurechnen. Im Jahr 1989 verübten Linksextreme insgesamt 837 Gewalttaten.
BPA-Bulletin
27. Juli 1990
Anschlag auf Staatssekretär Hans Neusel
Auf den Staatssekretär im Bundesinnenministerium, Hans Neusel (62), wird auf dem Weg zum Innenministerium ein Bombenanschlag verübt. Doch die Attentäter verfehlen, wie schon bei dem Anschlag auf den damaligen Finanz-Staatssekretär Hans Tietmeyer 1988, ihr Ziel. Der Sprengsatz, den die Terroristen an der Leitplanke der Autobahnabfahrt Bonn-Auerberg deponiert hatten und dessen Detonation durch eine Lichtschranke ausgelöst wird, war auf die Beifahrerseite des Wagens ausgerichtet. Nur weil Neusel nicht auf dem gewohnten Beifahrersitz sitzt, sondern seinen Dienstwagen selbst steuert, da sein Chauffeur in Urlaub ist, kommt er bei dem Attentat mit Schnittwunden davon. In einem mit dem RAF-Symbol gekennzeichneten Schreiben bekennt sich ein „Kommando José Manuel Sevillano“ zu dem Anschlag. Dieser, so heißt es darin, gelte der „faschistischen Bestie Westeuropas“, die Neusel in der internationalen Kommission für Verbrechensbekämpfung Trevi (Terrorisme, Radicalisme, Extremisme, Violence International) und in der NATO unterstützt habe. Mit dem Bezug auf den spanischen Terroristen Sevillano, der nach 117 Tagen Hungerstreik im Mai in der Haft gestorben war, will die RAF offenbar beweisen, daß ihre westeuropäische Front nun auch um die spanischen Gesinnungsgenossen von der „Grapo-PCE(r)“ erweitert worden ist, den „Grupos de Resistencia Antifascista Primero de Octubre – Partido Comunista de España reconstituido“.
Der Spiegel, 31/1990, S. 60 ff.
18. Oktober 1990
Bundesweiter Aktionstag von Linksextremisten
In Berlin ziehen über 500 Demonstranten, zum Teil vermummt, durch die Stadtteile Kreuzberg und Neukölln und rufen: „Nichts ist vergessen, nichts ist vergeben.“ Sie verteilen Flugblätter mit Schmähparolen gegen die „Bonner Mördersäue“. Rund 150 Kölner RAF-Anhänger erinnern vor der Justizvollzugsanstalt Köln-Ossendorf „an das Datum, an dem der Staat seinen faschistoiden Charakter zeigte“. In Stuttgart sind Flugblätter im Umlauf, in denen „Mord im Auftrag des Staates“ angeprangert wird. Der Anlaß des „bundesweiten Aktionstages“, zu dem Linksextremisten in zahlreichen westdeutschen Großstädten aufgerufen hatten, liegt 13 Jahre zurück: Am 18. 10. 1977 hatten die inhaftierten RAF-Terroristen Andreas Baader, Jan-Carl Raspe, Gudrun Ensslin in ihren Zellen Selbstmord begangen, Irmgard Möller überlebte als einzige. Der offiziellen Version des gemeinsamen Selbstmordes stellen die Linksextremisten die These von der staatlich befohlenen Beseitigung entgegen. Zwei ehemalige RAF-Mitglieder erschüttern die Legende vom Märtyrertod nachhaltig. Die Exterroristinnen Susanne Albrecht (39) und Monika Helbing (37) haben vor der Karlsruher Bundesanwaltschaft ausgesagt, die Stammheimer Häftlinge hätten ihren Tod von vornherein für den Fall eingeplant, daß ihre Befreiung scheitern würde. Die makabre Maßnahme sei damals unter den aktiven RAF-Kadern als „Suicide Action“ gehandelt worden. Die Geschichte vom „Mord an den Gefangenen“ war laut Monika Helbing eine „Lüge“. Ziel der Selbsttötungsaktion von 1977 sei es gewesen, so Helbing, die Politik der RAF „in der Öffentlichkeit glaubwürdig zu machen“. Vor allem sei es darum gegangen, eine Legitimation für „weitere Aktionen“ zu schaffen.
Der Spiegel, 50/1990, S. 62
Zusammengestellt von Hans-Helmuth Knütter und Alexander Helten
Abkürzungen der Literaturangaben
AL = Michael Bühnemann u. a. (Hg.): AL. Die Alternative Liste Berlin. Berlin 1984
APuZ = Aus Politik und Zeitgeschichte
Backes = Uwe Backes / Eckhard Jesse: Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland. Bonn 1996