Das Jahr 1975

Februar 1975
Hungerstreik der RAF-Häftlinge

Durch einen mehrwöchigen Hungerstreik gegen „Isolationsfolter“ in den Gefängnissen der Bundesrepublik versuchen die RAF-Häftlinge, auf sich aufmerksam zu machen. Der Tod des Anarchisten Holger Meins gibt die notwendige Publizität für diesen Hungerstreik, der jedoch im Februar 1975 abgebrochen wird.
Gerd Langguth, Die Protestbewegung in der Bundesrepublik Deutschland 1968–1976, Verlag Wissenschaft und Politik, Berend von Nottbeck, Köln 1976, S. 252

27. Februar 1975
„Bewegung 2. Juni“ entführt Berliner CDU-Vorsitzenden Peter Lorenz

Der Vorsitzende des Berliner Landesverbandes der CDU Peter Lorenz wird von Mitgliedern der „Bewegung 2. Juni“ entführt.
Archiv der Gegenwart 1975, S. 19288 D/1

28. Februar 1975
Forderung der Entführer Lorenz

Die „Bewegung 2. Juni“ nennt ihre Bedingungen für die Freilassung von Lorenz: „1. Sofortige Freilassung, d. h. Annullierung der Urteile, der Gefangenen, die bei Demonstrationen anläßlich der Ermordung des Revolutionärs Holger Meins in Berlin verhaftet und verurteilt sind. Diese Forderung ist innerhalb von 24 Stunden zu erfüllen. 2. Sofortige Freilassung von Verena Becker, Gabriele Kröcher-Tiedemann, Horst Mahler, Rolf Pohle, Ina Siepmann, Rolf Heissler. Die in Westdeutschland gefangengehaltenen Genossen Kröcher, Pohle und Heissler sind binnen 48 Stunden nach West-Berlin einzufliegen. Eine Boeing 707 hat in West-Berlin vollgetankt und mit vier Mann Besatzung bereitzustehen. Die obengenannten Genossen werden bis zu ihrem Reiseziel von einer Person des öffentlichen Lebens begleitet. Die Person ist der Pfarrer und Bürgermeister a. D. Heinrich Albertz. Außerdem sind den sechs Genossen jeweils 20.000 DM auszuhändigen. Diese Forderungen sind binnen 72 Stunden zu erfüllen. 3. Veröffentlichung dieser Mitteilung in Form von Anzeigen in folgenden Tageszeitungen: BZ, Tagesspiegel, Hamburger Morgenpost, Weserkurier, Hannoversche Allgemeine Zeitung, Frankfurter Rundschau, Süddeutsche Zeitung, NRZ, tz, Frankfurter Allgemeine Zeitung. Die Anzeigen sind von der CDU zu bezahlen … Bei präziser Erfüllung aller Forderungen sind die Unversehrtheit und die Freilassung des Gefangenen Lorenz garantiert. Andernfalls ist eine Konsequenz wie im Falle des Obersten Richters G. v. Drenkmann unvermeidbar.“
Archiv der Gegenwart 1975, S. 19289, Abs. 2, 3

2. März 1975
Die Bundesregierung gibt den Forderungen der Erpresser nach

Unter Vorsitz von Bundeskanzler Helmut Schmidt beschließt der Krisenstab in Bonn, dem neben Mitgliedern der Bundes- und Landesregierungen auch Vertreter der Opposition auf Bundes- und Landesebene angehören, unter Bezugnahme auf § 34 StGB und nach Konsultation mit den zuständigen Westalliierten, das Leben von Peter Lorenz über die Staatsraison zu stellen und dementsprechend den Forderungen der Terroristen nachzugeben.
Archiv der Gegenwart 1975, S. 19289

2. März 1975
Horst Mahler lehnt die Freilassung ab

Horst Mahler erklärt durch seinen Rechtsanwalt Schily, die Entführung des Volksfeindes Lorenz sei Ausdruck einer von den Kämpfen der Arbeiterklasse losgelösten Politik, die in einer Sackgasse enden müsse. Die Strategie des individuellen Terrors sei nicht die Strategie der Arbeiterklasse. Da sein Platz an der Seite der revolutionären Arbeiterklasse sei und da er sich während seines Prozesses öffentlich von der Strategie der RAF getrennt habe, lehne er es ab, sich auf diese Weise außer Landes bringen zu lassen.
Archiv der Gegenwart 1975, S. 19290, Abs. 1

3. März 1975
Die RAF-Häftlinge werden nach Süd-Jemen ausgeflogen

Fünf RAF-Häftlinge werden von Frankfurt a. M. nach Aden (Demokratische Volksrepublik Süd-Jemen) ausgeflogen. Sie werden von Pfarrer Albertz begleitet.
Archiv der Gegenwart 1975, S. 19290/3

5. März 1975
Freilassung von Peter Lorenz

Peter Lorenz wird freigelassen. Er erklärt auf einer Pressekonferenz u. a.: „Nach dem Willen der Täter war die Tat ein Gewaltakt, der sich eindeutig gegen unsere Rechtsordnung und gegen unseren demokratischen Rechtsstaat ­gerichtet hat. Ich darf sagen, daß natürlich ein solcher Gewaltakt wie diese Entführung keinen Einzelfall darstellt, sondern sich jederzeit an allen Orten und gegenüber jedem anderen wiederholen kann. Und deshalb möchte ich heute dringender als zu irgendeinem anderen Zeitpunkt zuvor betonen, daß es auch in ­Zukunft des gemeinsamen Handelns und eines Höchstmaßes an Solidarität der Demokraten bedarf bei der Verteidigung unseres Rechtsstaates und bei der Bekämpfung von Terror und Gewalt in jeder Form. Und wir müssen uns darüber im klaren sein, daß es nicht nur eine polizeiliche Aufgabe oder eine Verwaltungsaufgabe ist, vor der wir hier stehen, sondern es ist vor allem eine politische und geistige Aufgabe. Denn es geht darum, die Radikalisierung und ihre geistigen Wurzeln mit Nachdruck langfristig und mit Erfolg gemeinsam zu bekämpfen.“
Archiv der Gegenwart 1975, S. 19290, Abs. 6, 7

24. April 1975
Terroristen besetzen Botschaft der BRD in Stockholm, um die Freilassung von Baader-Meinhof-Häftlingen zu erzwingen

Sechs Terroristen besetzen die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Stockholm, nehmen einen Teil des Botschaftspersonals als Geiseln und fordern für den Abbruch der Aktion die Freilassung von 26 Baader-Meinhof-Häftlingen. Die Bundesregierung lehnt die Erfüllung dieser Forderung und jede Art von Verhandlungen mit den Terroristen ab. Diese erschießen darauf zwei Diplomaten, den Militärattaché Andreas von Mirbach sowie den Wirtschaftsattaché Heinz Hillegaart, und sprengen die Botschaft. Der schwedischen Polizei gelingt es, die Terroristen zu verhaften und die meist verletzten Geiseln zu befreien.
Archiv der Gegenwart 1975, S. 19421 A

25. April 1975
Regierungserklärung von Bundeskanzler Schmidt

„… Die Verantwortlichen (die Terroristen) hatten bis zum Stockholmer Verbrechen mindestens neun Tote und mehr als 100 Verletzte, zum Teil Schwerverletzte, auf dem Gewissen. Eine Freilassung dieser Verbrecher, die ihren Prozeß zum Teil noch erwarten, hätte eine unvorstellbare Zerreißprobe für unser aller Sicherheit und für den Staat bedeutet … Abermals, wie im Falle der Entführung des Berliner Abgeordneten Lorenz, galt es abzuwägen zwischen der Rettung von unmittelbar bedrohter Menschenleben auf der einen Seite und andererseits der Gefährdung, der Infragestellung der überragenden Aufgabe des Staats, das Leben aller seiner Bürger zu sichern. Der Rechtsstaat kann seine Funktion nur dann erfüllen, wenn die Bürger darauf vertrauen können, daß er seine Gesetze auch durchsetzt. Unsere Verfassung weist allein dem Staat die Verpflichtung und das Recht zu, über Strafen und über Freiheit zu entscheiden. Unsere Entscheidung (auf die Forderungen der Terroristen nicht einzugehen) hat sich an dem Grundsatz orientiert, daß unser Staat vor allem anderen die Aufgabe hat, das Leben und die Freiheit aller seiner Bürger zu schützen. Vor dieser Aufgabe hätten wir versagt, wenn 26 anarchistische Banditen freigelassen worden wären, von denen zahlreiche – anders als jene fünf, mit deren Freilassung wir das Leben von Peter Lorenz gezahlt haben – in diesem Falle des mehrfachen Mordes oder des versuchten Mordes und anderer Gewaltverbrechen angeklagt sind. Die schreckliche Seuche des internationalen Terrorismus bedarf der internationalen Zusammenarbeit der Staaten, die wir praktizieren. Aber auch im eigenen Lande bedürfen unsere Sicherheitsbehörden und ihre Beamten und Angestellten weiterhin unserer Hilfe … Wer den Rechtsstaat zuverlässig schützen will, muß innerlich auch bereit sein, bis an die Grenzen dessen zu gehen, was vom Rechtsstaat erlaubt und geboten ist …“
Archiv der Gegenwart 1975, S. 19422/2

29./30. April 1975
Bombenanschläge in Mainz, Ludwigshafen und Berlin (West)

In der Nacht vom 29. auf den 30. 4. werden Bombenanschläge auf die Gebäude der Industrie- und Handelskammern in Mainz und Ludwigshafen sowie auf das Gebäude der Ausländerpolizei in Berlin verübt. In einem dem dpa-Büro in Frankfurt/Main zugeleiteten Flugblatt erklärt eine „revolutionäre Zelle“, sie habe diese Aktion gezielt zum 1. Mai, zum „Kampftag der Arbeiterklasse“ verübt; einen Tag der Arbeit gebe es nicht, weil „an jeder Arbeit, die wir nicht uneingeschränkt selbst bestimmen und für uns selbst machen, nichts zu feiern ist“.
Archiv der Gegenwart 1975, S. 19426 C

Dezember 1975
Anschlag auf die OPEC-Zentrale in Wien

Zwei deutsche Terroristen sind an einem Anschlag auf die OPEC-Zentrale im Dezember 1975 in Wien beteiligt. Es handelt sich bei diesen um die anläßlich der Lorenz-Entführung nach Aden (Süd-Jemen) gebrachte Gabriele Kröcher-Tiedemann und um Hans-Joachim Klein.
Gerd Langguth, Die Protestbewegung in der Bundesrepublik Deutschland 1968–1976, Verlag Wissenschaft und Politik, Berend von Nottbeck, Köln 1976, S. 25

Zusammengestellt von Hans-Helmuth Knütter und Alexander Helten

Abkürzungen der Literaturangaben
AL = Michael Bühnemann u. a. (Hg.): AL. Die Alternative Liste Berlin. Berlin 1984
APuZ = Aus Politik und Zeitgeschichte
Backes = Uwe Backes / Eckhard Jesse: Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland. Bonn 1996
BPA-Bulletin = Bulletin des Bundespresseamtes (Bonn)
Schlomann = Friedrich W. Schlomann: Die Maulwürfe. Berlin 1994

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