Verfassungsdiskussion Teil 12

Beiträge zur Verfassungsdiskussion – 12. Teil: Chinesisches Demokratiewunder durch Rezeption der Weimarer Reichsverfassung in Taiwan

Josef Schüßlburner

(Stand: 25.12.2022) In dem von der einflußreichen Zeitschrift Economist aufgestellten weltweiten Demokratieindex rangiert Taiwan auf Platz 8, während die BRD nur Platz 15 einnimmt:

Dieser Demokratieindex ist dabei sicherlich als realistischer einzustufen als etwa der von der Universität Würzburg aufgestellte Demokratieindex, bei dem die BRD ziemlich illusorisch weltweit Platz 5 einnimmt und Taiwan erst Platz 31 Bei den internationalen Vergleichen, selbst bei dem realistischen der Zeitschrift Economist, kommt die BRD insgesamt in der Regel zu gut weg, weil meistens das Verständnis für die freiheitsfeindlichen Auswirkungen der besonderen Parteiverbotskonzeption und des daraus abgeleiteten Parteiverbotssurrogats fehlt (dies begreifen sogar Anhänger einer betroffenen Partei nicht wirklich). Außerdem wird bei derartigen internationalen Vergleichen doch zu sehr auf amtliche Demokratiebekenntnisse mit Bewältigungsideologie abgestellt, wo die BRD in der Tat hervorragt. Damit ist es wohl zu erklären, daß das gegenüber der BRD erkennbar freiere Österreich (vergleicht man etwa den Legalitätsstatus von FPÖ gegenüber der AfD) selbst im Economist-Index erst auf Platz 20 nach der VS-Demokratie BRD rangiert und auch Japan mit Platz 17 schlechter als die BRD eingestuft ist, obwohl oder vielleicht weil Japan die bundesdeutsche Konzeption einer Parteiverbotsdemokratie bewußt zurückgewiesen hat.

Geht man trotz aller Vorbehalte gegenüber derartigen Demokratieindizes vom wirklichkeitsnahen Index der Zeitschrift Economist aus, stellt sich die Frage, was zu tun wäre, daß die Demokratiesituation der BRD auf ein taiwanesisches Niveau gehoben werden könnte. Die Antwort ist dann eben doch, daß die Freiheitssituation in der BRD bei Geltung der freien Weimarer Reichsverfassung besser wäre als sie sich aufgrund des nur freiheitlichen Grundgesetzes darstellt. Zumindest geht das Wunder einer chinesischen Demokratie – man ist aufgrund der über zweitausendjährigen chinesischen Geschichte von Despotie und Autokratie und vor allem wegen des vorausgegangenen Fehlschlags der chinesischen Republik in der Tat versucht, von einem „Wunder“ zu sprechen – auf die bereits zur Zeit des Republikgründers Sun Yat-sen zum Ausdruck gebrachte Wertschätzung der Weimarer Reichsverfassung zurück. Diese stellte nach ihrem Bekanntwerden die Grundlage der chinesischen Verfassungsdiskussion der Zeit von Beginn der Republik im Jahr 1911 bis zur kommunistischen Machtergreifung von 1949 dar, wobei sich diese Diskussion mit der Verfassung von 1946 konkretisiert hat. Rezeption bedeutet dabei kein Abschreiben, sondern das Nachvollziehen der Strukturen einer rezipierten Verfassung mit den Modifikationen, die sich aufgrund eigener Erkenntnisse und Bedürfnisse ergeben. So konstruierte der maßgebliche Republik-Gründer Sun Yat-sen und ihm nachfolgend seine Partei Kuomintang eine fünf-Gewalten-Verfassung, womit durchaus positiv einzustufende Elemente der chinesischen Kaiserzeit wie das in der Tat beeindruckende Zensoriat mit republikanischen Vorstellungen verbunden werden sollten.

Allerdings konnte die republikanische Demokratie in China aufgrund historischer Vorbelastungen nicht verwirklicht werden, sondern blieb mit den Verfassungsentwürfen und der damit verbundenen Verfassungsdiskussion normatives Ideal. Faktisch wurde in Form der kriegs- und notstandsrechtlichen Verfassungsdurchbrechung regiert, was auf die von Sun Yat-sen verkündeten drei Stadien zurückführt, wonach der Demokratieverwirklichung als drittem Stadium zunächst zwei abgestufte Formen einer Militärdiktatur und dabei einer Erziehungsdiktatur vorausgehen müßten, für die man sich sowohl am zeitgenössischen Bolschewismus als auch am Faschismus orientierte, welche Sun Yat-sen zutreffender Weise ohnehin als ähnliche Phänomene erkannte (was die BRD-Bewältigungsideologie grundlegend verfehlt). Dementsprechend wurde nach dem kommunistischen Sieg im chinesischen Bürgerkrieg die Chinesische Republik auf Taiwan als Zufluchtsgebiet der Kuomintang regiert. Erst nach Aufhebung des Kriegsrechts im Jahr 1987 und des Notstandsrechts im Jahr 1990 konnte die Verfassung von 1946 ihre normative Wirkung voll entfalten, wozu dann auch Verfassungsänderungen zählten, die dann die chinesische Verfassung in Taiwan verstärkt am Weimarer Verfassungsmodell ausgerichtet haben wie die Direktwahl des Präsidenten und die Einführung von Volksabstimmungen. Damit wurde innerhalb ziemlich kurzer Zeit anerkanntermaßen eine stabile Demokratie verwirklicht wie sich an dem friedlichen Machtwechsel vom „blauen Lager“ zum „grünen Lager“ und zurück nachweisen läßt.

Wesentlich für den Demokratieerfolg war die Taiwanisierung der Partei Kuomintang, der Verzicht auf „Vergangenheitsbewältigung“ und natürlich die außenpolitische Konstellation, welche die taiwanesischen Politiker zur Auffassung brachte, daß nur eine konsequente Ausrichtung auf die Demokratie westliche Mächte veranlassen könnten, für die Existenz von Taiwan als einem faktisch souveränen Staat einzutreten. Zu diesem Zweck hat man dann auch Elemente übernommen, die im derzeitigen Europa als besonders „demokratisch“ gelten wie die gleichgeschlechtliche Ehe, die in ganz Asien nur in Taiwan ermöglicht ist und dann schließlich auch die Möglichkeit eines Parteiverbots, zu dem sich dann der Gerichtshof erst zum Verfassungsgericht umbenennen muß – erkennbar eine Rezeption der bundesdeutschen Spezialität, wobei damit aber wohl keine „wehrhafte Demokratie“ eingeführt, sondern nur der Legalitätsstatus von Parteien gesichert werden sollte, ein Aspekt, den das Bundesverfassungsgericht einmal hervorgehoben, aber dann mit der „Radikalenentscheidung“ zugunsten der Etablierung des Parteiverbotsersatzregimes sehr zurückgedrängt, wenn nicht gar weitgehend aufgegeben hat.

Von besonderer Bedeutung für die erfolgreiche Demokratieverwirklichung ist der taiwanesische Nationalismus, der im Westen, der ansonsten Nationalismus bekämpft – im amtlichen bundesdeutschen Extremismus gilt er gar als „verfassungsfeindlich“ – aus ähnlichen Gründen für gut befunden wird wie derzeit etwa der ukrainische. Für die nationale Identität eines selbständigen Taiwans sprechen objektive Gründe, die erklären, weshalb sich ein Volk selbst als solches versteht. Neben der Tatsache, daß die Insel lange Zeit gar nicht zum chinesischen Machtbereich gehört hatte, ist die japanische Verwaltung von 1895 bis 1945 von zentraler Bedeutung, die von den Taiwanesen, völlig im Unterschied zum kontinentalen China, als positiv eingestuft wird, weil dies die Grundlage für den erstaunlichen Wirtschaftsaufschwung schaffte. Taiwanesen gelten manchmal als Japaner, die chinesisch sprechen. Nach Umfragen ist der Anteil der Taiwanesen, der sich als ausschließlich „chinesisch“ definiert, auf unter 4 Prozent der Bevölkerung zurückgegangen, während sich der Anteil, der sich als ausschließlich „taiwanesisch“ einordnet, kontinuierlich auf nunmehr fast 60% gestiegen ist. Der Rest definiert sich als sowohl taiwanesisch als auch chinesisch oder läßt die Frage unbeantwortet.    

Unter normalen Verhältnissen, insbesondere bei Beachtung des allerdings auch von bundesdeutschen VS-Ideologen nicht besonders geliebten Grundsatzes des Selbstbestimmungsrechts der Völker, würde einiges dafür sprechen, daß Taiwan zu einem unabhängigen Staat erklärt wird und dies auch international so anerkannt würde. Dazu wird selbst die „werteorientierte Außenpolitik“ der Bundesregierung nicht führen, weil dies die Volksrepublik China nicht zulassen wird. Die BRD darf allerdings die an deutsche (Vermögens-) Werten ausgerichtete Politik zu Recht vertreten, weil bei einem Wirtschaftskrieg gegen die Volksrepublik China, bei dem sich vor allem die Deutschen selbst (und auch die Taiwanesen!) im Interesse der USA massiv schaden würden, überhaupt nicht garantiert wäre, daß sich in der Volksrepublik China dann „Liberale“ und „Demokraten“ durchsetzen würden. Eher besteht wohl die Gefahr, daß sich dann in der Volksrepublik China so etwas wie nordkoreanische Verhältnisse ergeben könnten, welche eine „werteorientierte Politik“ nicht würde verhindern können, sondern u. U. eher beschleunigt herbeiführen könnte.    

Die bloße Existenz von Taiwan kann für Chinesen der Volksrepublik China sicherlich eine Inspiration sein, daß eine liberale Demokratie des Westens im chinesischen Kulturkreis verwirklicht werden kann (was ja im weiteren Sinne schon mit Japan und Süd-Korea erwiesen ist). Eine einfache Übertragung auf die Volksrepublik China wird allerdings nicht möglich sein, vielmehr dürften sich bei gedanklicher Nachvollziehung der taiwanesischen Erfolgsvoraussetzungen der Demokratie wie geringe Landesgröße, lokaler Nationalismus, erhebliche Modifikation der chinesischen (staatskonfuzianischen) Überlieferung, wenn nicht gar Absetzung von dieser, für das weitere Schicksal der Volksrepublik China keine besonders vorteilhafte Perspektiven  ergeben.

Die Deutschen könnten zumindest zum Demokratieverständnis der Chinesen beitragen, indem sie der taiwanesischen Entwicklung auch für sich selbst eine Bedeutung zuschreiben. Etwa, indem erörtert wird, ob der taiwanesische Erfolg vielleicht einen Beleg darstellt, daß für sie ein Verfassungssystem im Sinne der Weimarer Reichsverfassung nicht doch die bessere Alternative sein könnte. Dann könnten Chinesen den Eindruck gewinnen, daß Demokratie nicht etwas darstellt, womit sie den Westen nachahmen müßten, sondern auch etwas, wo dann u. U. auch Chinesen, zumindest Taiwanesen, den Bundesdeutschen etwas bieten könnten. Dies wäre dann eine wirkliche universalistische Demokratieperspektive, die dabei vom missionarischen Weltverständnis der „wertebasierten Außenpolitik“ zur dringend angezeigten Selbstreflektion der bundesdeutschen Politikelite führen könnte: Eine BRD mit „Verfassungsschutz“, weltanschaulichem Parteiverbot und Verbotsersatzregime mit Auswirkungen auf die Unabhängigkeit der Justiz und Beeinträchtigung des Parlamentarismus ist nicht unbedingt ein besonders überzeugender Demokratiemissionar: Der zudem froh sein darf, beim Demokratieindex immerhin noch Platz 15 zugewiesen zu bekommen, obwohl ein nachrangigerer Platz, etwa Platz 40, sicherlich angemessener wäre.

Hinweis
Es ist kaum anzunehmen, daß eine Partei wie die AfD in der taiwanesischen Demokratie derartigen demokratiefeindlichen Diskriminierungen ausgesetzt wäre, wie dies in der Bundesrepublik Deutschland festzustellen ist, die deshalb im realistischen Demokratieindex des Economist zurecht schlechter als Taiwan eingestuft wird. Was insbesondere für die vom Demokratie-Sonderweg BRD betroffene Partei zu tun ist, um die Demokratiesituation der BRD auf ein taiwanesisches Niveau zu heben, ist dargestellt in der Broschüre des Verfassers:

Josef Schüßlburner
Scheitert die AfD? Die Illusion der Freiheitlichkeit und die politische Alternative
Studie 39 des IfS, Verein für Staatspolitik e. V., 2020, Broschur, 239 Seiten, 7 Euro
Erhältlich beim Verlag Antaios

“Verfassungsdiskussion Teil 12”


WordPress Cookie Plugin von Real Cookie Banner