Teil 27: Verfassungswidrige Ideologiestaatlichkeit
Josef Schüßlburner
(02.06.2021) Artikel 13 der Verfassung der Russischen Föderation stellt in einer überzeugenden Weise den Zusammenhang zwischen Parteien- und Meinungspluralismus mit der Erkenntnis her, daß für ein Vereinigungsverbot das Gewaltkriterium maßgebend ist: Es gilt dazu den Rechtsstaat mit seiner weltanschaulichen Neutralität gegen einen Ideologiestaat zu sichern.
Die russische Verfassung nimmt damit eine notwendige Ergänzung zu einer entsprechenden Regelung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland vor, das mit dem über Art. 140 GG in das Grundgesetz integrierten Artikel 137 Abs. 1 der Weimarer Reichsverfassung (WRV) nur die Regelung trifft: Es besteht keine Staatskirche. Damit ist auch gemeint und vor allem auch beabsichtigt: Es gibt keine Staatsreligion. Rechtsstaatlich geboten ist aber die mit der russischen Verfassung explizit vorgenommene ausweitende Formulierung, wonach es generell keine Staatsideologie geben darf, da eine Staatsreligion im Zweifel Bestandteil einer Staatsideologie ist oder eine derartige darstellt. Nur auf der Grundlage der weltanschaulichen Neutralität des Staates kann es das Mehrparteiensystem und die gesellschaftliche Vielfalt geben. Zwingende Konsequenz für die Frage des staatlichen Verbots von Vereinigungen, einschließlich von Parteien, ist dabei das Abstellen auf rechtswidriges, insbesondere gewaltsames Verhalten derartiger Organisationen. Ein Abstellen auf andere Kriterien, wie etwa auf eine falsche Staatsauffassung oder ein entsprechendes Menschenbild, wäre mit dieser staatlichen Verpflichtung zur weltanschaulichen Neutralität nicht vereinbar, weil dies etwa ein staatlich gewolltes Menschenbild zur Voraussetzung hätte, das dem Staat als Prüfungsmaßstab dient, was aber ersichtlich kein rechtlich neutraler Maßstab wäre.
Das bundesdeutsche Verfassungsschutzregime entspricht erkennbar nicht den genannten rechtsstaatlich gebotenen Anforderungen, die in der russischen Verfassung explizit geregelt sind: So wird die Hauptoppositionspartei im Deutschen Bundestag, die AfD, nicht deshalb einem Parteiverbotsersatzregime durch Geheimdienstüberwachung und mit den damit verbundenen Diskriminierungsmaßnahmen unterworfen, weil diese Partei den gewaltsamen Umsturz vorbereiten würde, sondern weil, von der verfassungsrechtlichen Meinungsfreiheit abgedeckt, bestimmte Meinungen geäußert werden, wie etwa die Verschiedenwertigkeit von Kulturen zu behaupten, gegen den Islam feindlich eingestellt zu sein und die Vergangenheit nicht richtig zu bewältigen, insbesondere deutsche Kriegsschuld nicht hinreichend anerkennen zu wollen. Derartige Vorwürfe gegen die politische Opposition durch öffentlich in Erscheinung tretenden Inlandsgeheimdiensten sind als staatliche (Nach-)Zensur zu kennzeichnen, die wiederum das Bestehen eines Staatsorthodoxie zur Voraussetzung hat, die sich einer (ungeschriebenen) Kanonisierung von (angeblichen) „Verfassungswerten“ spiegelt, deren Kehrseite natürlich die Zensur ist, weil Kanonisierung und Zensur als korrelative Begriffe zu verstehen sind: Zensur, also die staatliche Verhinderung oder negative Bewertung von Meinungsäußerungen dient der Stützung und Profilierung eines Kanons, indem sie konkurrierende Traditionen und Interpretationen marginalisiert und tabuisiert, wobei damit notwendigerweise die weltanschauliche Neutralität des Rechtsstaats verletzt wird.
Gemessen werden kann das Ausmaß an Ideologiestaatlichkeit an der Gewährleistung der Religionsfreiheit. Dabei zeichnet sich mit dem bundesdeutschen VS-Regime eine ins Theologisch-Religiöse gehende Verfassungsideologie ab, die um die „Bewältigung“ kreist und dabei schon Auswirkung auf die Dogmatik etablierter Religionsgemeinschaften genommen hat, etwa indem sich christliche Kirchen von der Judenmission verabschieden. „Verfassung“ als Prüfungsmaßstab für Religion macht die Verfassung selbst zu einem religiösen Dokument, das damit im Gegensatz zur weltanschaulichen Neutralität des Rechtsstaats und damit der Gewährleistung von Meinungspluralismus und Mehrparteienprinzip gerät. Insbesondere die Wunsiedel-Entscheidung des Verfassungsgerichts markiert einen Wendepunkt, indem eine an sich als verfassungswidrig erkannte Strafnorm doch für verfassungsmäßig erklärt wird, weil dem Grundgesetz aus bewältigungsideologischen Gründen gewisse Freiheitsbeschränkungen „immanent“ wären, wobei unklar ist, was da alles dem Grundgesetz sonst noch „immanent“ sein könnte. Der häufig als „ungeschriebener Teil des Grundgesetzes“ genannte Bereich, wie etwa, daß die ungeschriebene Verfassung der Bundesrepublik Deutschland der Holocaust wäre, wird damit zum „immanenten“ Teil erklärt.
Die verfassungsreligiöse Überlagerung eines rechtsstaatlich konzipierten Verfassungstextes ist deshalb gefährlich, weil dies in der Normalschema der Menschheitsgeschichte, nämlich zu einer religiösen Herrschaftsbegründung zurückführt, die die weltanschauliche Neutralität des Rechtsstaats als Errungenschaft der Aufklärung negieren muß. Als langfristige Perspektive bietet sich dabei die Islamisierung an, die durch die offiziös propagierte Überreligion eines „Abrahamismus“ sehr begünstig wird und ideologiestaatlich dadurch abgestützt wird, indem sog. „Islamfeindlichkeit“ als „verfassungsfeindlich“ bekämpft wird. Umgekehrt wird damit die Kampfstellung gegen eine Islamisierung und gegen den ideologisch ausgerichteten Verfassungsschutz zu zwei Seiten einer Medaille.
Hinweis der Reaktion
Dieser Beitrag zur bundesdeutschen Ideologiestaatlichkeit vertieft einen Aspekt der grundlegenden Kritik am bundesdeutschen „Verfassungsschutz“, die der Verfasser mit seiner Veröffentlichung »Verfassungsschutz«: Der Extremismus der politischen Mitte vorgelegt hat.
Josef Schüßlburner/Institut für Staatspolitik
»Verfassungsschutz«: Der Extremismus der politischen Mitte
Wissenschaftliche Reihe; 30 [Arbeitsgruppe 1: Staat und Gesellschaft]
62 Seiten, ermäßigt 5 Euro, ISBN: 978-3-939869-30-6, erhältlich hier