Beitrag zur Verfassungsdiskussion – 6. Teil: Unfreie Entstehungsbedingungen des Grundgesetzes als fortwirkende Demokratiedefizienz
Josef Schüßlburner
Ausgerechnet in der Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) vom 23.05.2019, die insgesamt der Lobpreisung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland als „freieste Verfassung“ und dergl. gewidmet war, wird auf S. 13 mitgeteilt, daß die überwiegende Mehrheit der Deutschen den Raum für die Meinungsfreiheit schwinden sieht. Den Zusammenhang stellt vielleicht die Karikatur auf S. 1 derselben FAZ-Ausgabe her, bei dem Moses, der gerade mit am Sinai erhaltenen Zehn Geboten wegzieht, noch nachträglich göttlich aufgegeben wird (es ist ein göttlicher Arm dargestellt, der aus den Wolken ragt, welcher das Grundgesetz in der Hand hält), er solle doch als ergänzende Regelung zu den Zehn Geboten für die Deutschen das Grundgesetz mitnehmen.
Dies macht deutlich, daß das Grundgesetz als „Bibel der Deutschen“ primär für eine Pflichtenordnung steht („compliance“ gegenüber dem Verfassungsschutz wird dies in internen AfD-Papieren genannt), welche die mit der Volkssouveränität implizierte politische Freiheit inhaltlich determiniert und sie damit defizitär macht. Dies ist auf den Begriff der „Verfassungssouveränität“ gebracht worden, wonach Demokratie so zu verstehen ist, daß es im Zweifel nicht auf den Willen der Staatsbürger ankommt, sondern auf einen davon abstrahierten „Willen der Verfassung“, der realiter vom Verfassungsgericht, vor allem aber vom „Verfassungsschutz“ (Inlandsgeheimdienst) autoritativ ermittelt wird. Damit droht vor allem der Raum für die Meinungsfreiheit, Grundlage der (politischen) Freiheit überhaupt, zu schwinden wie von der überwiegenden Mehrheit der Deutschen vielleicht nicht wirklich begriffen, so doch instinktiv erahnt wird.
Dabei sind die Kriterien, nach denen die Ausübung der Meinungsfreiheit durch das als Pflichtenordnung für die Bürger verstandene Grundgesetz determiniert wird, vorrechtlicher Art und reflektieren die unfreien Entstehungsbedingungen dieses Grundgesetzes, die als eine Art Überverfassung („ungeschriebener Teil des Grundgesetzes“) so lange fortwirken, bis die Bundesrepublik Deutschland ein souveräner Staat ist, was Deutschland aber nach Einschätzung des derzeitigen Bundestagspräsidenten seit Mai 1945 nie mehr war und was europapolitisch, d.h. einbindungspolitisch danach gar nicht wünschenswert wäre. Bei diesem Verständnis wäre zwar die Bundesrepublik Deutschland befreit worden, aber doch nicht frei – bedeutet doch „Befreiung“ Freiheitsgewährung durch einen Dritten nach dessen Interessenlage und Vorstellungen. Zu dieser Interessenlage gehört die Ausschaltung Deutschlands als außenpolitischer Machtfaktor, was durch politisch gesteuerten kulturellen Wandel (Umerziehung), durch internationale Einbindung (Europaextremismus) und gegebenenfalls Volksaustausch (Asylrechtsmißbrauch, Willkommenskultur für illegale Einwanderung) durchgesetzt werden soll. Und genau bei diesen Politikfeldern wird die Meinungsfreiheit zwar formal nicht abgeschafft, aber durch eine Haßbegrifflichkeit wie durch den sehr flexibel handhabbaren Begriff des „Rechtsextremismus“ grundlegend delegitimiert. Der demokratische Mechanismus beruht dann nicht auf der Volkssouveränität, sondern ist pflichtengesteuert – was dann auf den Begriff der „Verfassungssouveränität“ gebracht werden mag.
Dies hat eine Art von religiöser Aufwertung der als „Grundgesetz“ bezeichneten Verfassung zur Folge, was sich in der ungeniert verwandten Begrifflichkeit als „Bibel der Deutschen“ manifestiert. Mit dieser religiösen Gestimmtheit war das Grundgesetz schon von vornherein verknüpft, womit etwas vorliegt, das etwa im Zusammenhang mit der Weimarer Reichsverfassung oder auch mit der sog. Bismarckschen Reichsverfassung als ziemlich abwegig empfunden worden wäre. Nur im Zusammenhang mit dem Grundgesetz mußte ein maßgeblicher Politiker (Adenauer) darauf hinweisen, daß das entsprechende Verfassungwerk nicht mit den Zehn Geboten zu vergleichen wäre. Und in der Tat haben die USA ihre über den anerkannten völkerrechtlichen Befugnisse eines Besatzungsregimes weit hinausgehende Besatzungsherrschaft religiös legitimiert, nämlich das „für die Bundesrepublik Deutschland“ umzusetzen, was einst vom Sinai ausgegangen wäre, um nunmehr von den USA weltweit verwirklicht zu werden. Das damit einhergehende Theologisieren des Grundgesetzes erzeugt wie es bei einem verbindlichen religiösen Text so üblich ist, Häresien. Diese Häresien bestehen dann in „falschen“ Auffassungen, die dann von Staatsagenturen als solche ausgemacht werden. Der Zusammenhang zwischen Grundgesetztheologie und politischer Korrektheit bzw. Tabuthemen, deren amtliche Durchsetzung vermittels der Nachzensur durch „Verfassungsschutzberichte“ die politische Freiheit bedroht, ist damit hergestellt.
Diese Konstellation erklärt die wesentliche Demokratiedefizienz der Bundesrepublik Deutschland, die in einem besonderen Parteiverbotssystem, dem Parteiverbotsersatzsystem mit der für eine liberale Demokratie des Westens grotesken Bedeutung der Inlandsgeheimdienste als „democracy agencies“ (Economist) gründet. Dies ist Fortsetzung der unfreien Entstehungsbedingungen des Grundgesetzes, denen mit dem Beitrag detailliert nachgegangen wird.
Der Erfolg dieses Demokratiesonderwegs, der in seiner zunehmenden Akzeptanz bei den Bürgern besteht, die sich allerdings gleichzeitig darüber wundern, daß ihnen die Meinungsfreiheit irgendwie abhandenkommt, läßt sich im wesentlichen aus der Kriegsniederlage erklären. Da die besiegten Deutschen im Westen nicht förmlich annektiert wurden wie dies als Ergebnis einer derartigen Kriegsniederlage bei Anerkennung der moralischen Höherwertigkeit des Siegers durch die Besiegten (Grundlage des Werteordnungsdenkens) in früheren Zeiten der Völkerrechtsentwicklung durchaus üblich gewesen wäre, mußte man ein Annexionssurrogat finden, das in „Europa“ oder in der abstrakten „westlichen Werteordnung“ besteht. Eine „nationalistische“, d.h. politisch rechte Position ist dann den Deutschen verboten, selbst wenn sie von einer Mehrheit unterstützt werden würde, auf die es aber nicht ankäme, weil es doch auf den Willen einer Verfassung ankommt, die so etwas als „Bibel der Deutschen“ mit einer vom Sinai ausgehenden Autorität verbietet. Real kommt es auf einen entsprechenden Willen der Deutschen deshalb nicht an, weil ihnen entweder die zur Willensverwirklichung notwendigen Parteien wegverboten werden (real oder faktisch) oder die internationale Einbindung dafür sorgt, daß sich der in der Verfassungssouveränität zum Ausdruck kommende Wille der Menschheit (der von maßgeblichen Mächten formuliert und repräsentiert wird) gegen den irrelevanten Willen der Deutschen durchsetzt. Pluralismusbeschränkung im Inland und internationale Einbindung stehen so in einem Korrespondenzverhältnis, das auf die unbewältigte Besatzungsherrschaft zurückführt.
Der Beitrag kann dahingehend zusammengefaßt werden, daß gerade die Entstehungsbedingungen des Grundgesetzes für die konkrete Anwendung des Parteiverbotsersatzregimes auch im Jahr 2021 noch von zentraler Bedeutung sind. Grundlage dieses Parteiverbotssurrogats wie des diesem zugrundeliegenden Parteiverbotskonzepts sind die zentral sich aus den unfreien Entstehungsbedingungen ableitbaren Elemente wie beschränkter Parteienpluralismus, weitgehende Alternativlosigkeit bei grundsätzlichen Fragen, Maßgeblichkeit der Interessen ausländischer Mächte durch internationale Einbindung, Menschenrechtsreligiosität und Widerstand gegen das eigene Volk oder zumindest gegen unerwünschte Teile desselben.
Die Lösung aus dieser auf die Kriegsniederlage, die eben nicht nur eine Niederlage des Naziregimes, sondern der Deutschen war (oder steht Massenvertreibung für Demokratieverwirklichung?) zurückgehenden Lage besteht im Bruch mit der Nachkriegszeit, wie dies mit Artikel 146 GG vom Grundgesetz selbst so vorgesehen ist. Selbst wenn das Grundgesetz die Idealverfassung wäre, als die sie ausgegeben wird (was erkennbar nicht zutrifft), müßte dieser Bruch mit der Besatzungsherrschaft und den dadurch sich ergebenden Souveränitätsdefizite (die dabei auch solche der Volkssouveränität sind) vollzogen werden. Darin besteht die wirkliche politische Alternative!
Unter diesem Gesichtspunkt stellt der vorliegende Beitrag eine Ergänzung zur jüngsten Veröffentlichung des Verfassers dar mit dem Titel: Scheitert die AfD? Die Illusion der Freiheitlichkeit und die politische Alternative. Nur wenn begriffen wird, daß die gemessen am Prinzip der Volkssouveränität defizitären Entstehungsbedingungen des Grundgesetzes beim amtlichen „Kampf gegen rechts“ noch immer von maßgebender Bedeutung sind, wird es einer Partei rechts von der sog. Mitte gelingen, das Mehrparteienprinzip mit weltanschaulich-politischem Pluralismus in der Bundesrepublik Deutschland als politisches Hauptziel zu verwirklichen.
Josef Schüßlburner
Scheitert die AfD? Die Illusion der Freiheitlichkeit und die politische Alternative
Studie 39 des IfS, Verein für Staatspolitik e. V., 2020, Broschur, 239 Seiten, 7 Euro
Erhältlich beim Verlag Antaios